Essays

Die digitale Demokratie – kein Mythos sondern eine Herausforderung


Dr. Angelika Brinkmann


Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag am 27.09.2009 waren laut Wählerverzeichnis 62.2 Mio Bürger wahlberechtigt. Die Gesamtzahl der Wählerinnen und Wähler betrug 44,0 Mio. Es ergab sich eine Wahlbeteiligung von 70,8%. Damit lag die Wahlbeteiligung um 6.9% unter der von 2005 (77,7%) und um 8,3% unter der von 2002 (79,1%) 1949 und 1953 fanden Bundestagswahlen ohne das Saarland statt, ab 1990 nach dem Gebietsstand seit dem 3. Oktober 1990. Der Anteil der Briefwähler/innen lag mit 21,4% um 2,5% höher als 2005, der höchste Wert seit Einführung der Briefwahl 1957 [Einführung der Möglichkeit der Briefwahl zur Bundestagswahl 1957 durch das "dritte" Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956] Während der Anteil der Briefwähler 1957 bei 4,9% lag, waren es 1990 auch erst 9,4%.[Alle Angaben: www.bundeswahlleiter.de]

Wahlenthaltungsquoten von dreißig Prozent bedeuten, dass ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung zu denen auch die Mitglieder von Parteien gehören, an der nationalen Willensbildung überhaupt nicht Anteil nimmt. Der nachfolgende Beitrag gibt zunächst einen kurzen Überblick über unterschiedliche Begriffe wie Demokratie, Teilhabe, eine kurze Darstellung der Rolle der Parteien, beleuchtet die Rolle des Internets und stellt das Demokratiewerkzeug 'Liquid feedback' (LF) vor um im Schlußteil die Möglichkeiten und Herausforderungen dieser neuen Software für die innerparteiliche und allgemeine Demokratie zu betrachten.

 

Demokratiebegriff – eine Kurzdarstellung
Auslegungen und Kontroversen um den Begriff der Demokratie und sein richtiges Verständnis füllen ganze Bibliotheken. Der Demokratiebegriff ist eine der großen Schlüssel-Vokabeln der europäischen Aufklärung, der nachfolgenden Revolutionen und der politisch-normativen Kultur (der politischen Ethik) in heute allen Ländern der Erde. Die Verfassungen auf der Welt die nicht beanspruchen, auf Demokratie (von griech. Demos, das Volk) abgeleitet: Volksherrschaft, das Gesamtvolk als Träger staatlicher Gewalt zu beruhen, wird man an einer Hand aufzählen können. Demokratie ist von anderen Formen der (politischen) Herrschaft wie Autokratie (Herrschaft eines einzelnen) Aristokratie (Herrschaft der “Besten”, z.B. des Adels) Oligarchie (Herrschaft einer kleinen Gruppe) oder gar Tyrannis und Diktatur verschieden, bzw. das genaue Gegenteil von ihnen ( die Differenzierung der Staatsformen geht zurück auf den griechischen Philosophen Aristoteles) Demokratie steht für die Staatstheorie des 5./4. Jh.v. Sie ging von der Zahl der Herrschenden aus . Die attische Geschichte in Praxis und Propaganda hat die Demokratie der Vollbürger (nicht: Frauen, Zugewanderte, Sklaven) als Ideal konstituiert.
Die Perikleische Ära (ca. 490 – 429 v.) ist die Zeit in der Athen eine geistige und künstlerische Blüte erlebte. Das Volk ist in dieser Zeit der Souverän. Mit zunehmender Leidenschaft übte es die bürgerlichen Ehrenrechte aus und beteiligte sich an der Willensbildung, der Planung und Durchführung der öffentlichen Verwaltung. Die politische Beteiligung war der Vorgang, der den produktiven Prozess in Gang setzte und die direkte Demokratie begünstigte. Doch bereits zu Perikles' Zeiten konnten auch Machtverschiebungen beobachtet werden, gab es Gruppen- und Konkurrenzdenken. [Zur Entwicklung der attischen Demokratie,vgl. die Ausführungen in: Schubert, Charlotte, Perikles, München 1994, S. 154ff]
Andere sehen Perikles' politischen Einfluss in der Überzeugungskraft seiner Rhetorik. "Die Machtposition des Perikles war Ergebnis einer einzigartigen Konstellation, zu der er selbst maßgeblich beigetragen hatte... Nicht er war Tyrann, wie es seine Gegner ..herausstellten, sondern der Demos insgesamt, und zwar nicht im Sinne einer Despotie der vielen Armen über die wenigen Reichen, sondern aller Athener über ihre widerspenstigen Bundesgenossen." [Spahn, Peter, Perikles – Charisma und Demokratie, in: Nippel,W., Virtuosen der Macht, Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S.23-38, Zit. S.37]
Laut Wolfgang Will erreichte Perikles die nicht unbeträchtliche Machtfülle vor allem durch wiederholte Ausübung des Amtes des 'Strategen', (Feldherrn, einer der 10 jährlich zu wählenden obersten Beamten Athens). Die Bewerbung hing nicht mehr vom Zufall ab. Das Amt konnte beliebig oft und infolge bekleidet werden. ( Will, Wolfgang, Perikles, 1995, S.70) "Wer die Politik (mit)bestimmen wollte, brauchte eine Mehrheit in der Volksversammlung. Perikles besaß Autorität, weil er häufig Stratege war, und er wurde häufig Stratege, weil er Autorität besaß." [a.a.0 S.71]

Die Debattenkultur in Athen wird u.a. wie folgt charakterisiert: "Es mag durchaus zutreffen, daß die meisten Athener aller Schichten die Herrschaft ihrer Stadt im Seebund als solche nicht in Frage stellten.[...] Aber es wäre falsch- und widerspräche jeder historischen Erfahrung- daraus zu folgern, daß man über die Formen, Ziel und Konsequenzen dieser Herrschaftsausübung nicht zu allen Zeiten intensive, Einzelaspekte wie das Grundsätzliche betreffende Diskussionen geführt habe." [ Raaflaub, Kurt, Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffs der Griechen, München 1985, S.216/217]

Läßt man die weitere Entwicklung und Form der griechischen Demokratie hier ausser Betracht und konzentriert sich auf die Herausbildung des Demokratieverständnisses in der europäischen Aufklärung und den europäischen Revolutionen, so zeigt sich, dass mit dem Demokratiekonzept eine Reihe von anderen Begriffen bzw. Rechten und Garantien verknüpft sind: die Forderung nach Freiheit und Emanzipation, nach Fortschritt und rechtsstaatlichen Garantien für die Sicherung der Freiheit und Würde der (aller!) Menschen. Der Demokratie-Begriff kann deshalb kein statischer sein. Bleibt die Forderung nach menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung bestehen, so wandeln sich die Voraussetzungen, auf denen sie verwirklicht werden kann. War im 19. Jahrhundert die Verwirklichug des liberalen Rechtsstaates eine demokratische Zielvorstellung, so ist es gegenwärtig die Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats: nicht mehr Eigentum allein kann Unabhängigikeit und Teilnahme am sozialen und politischen Leben als Basis indivueller Freiheit garantieren (ohnehin wie sich zeigen sollte vor allem für die “Besitz-Bürger”) sondern die Gewährung von Sozialrechten und Garantien der Daseinsvorsorge.

Den Begriffen Demokratie und Demokratisierung, Partizipation und Mitbestimmung ist gemeinsam,dass sie auf Teilhabe/Beteiligung der Regierten, der Arbeitnehmer, der Gemeindebürger an Entscheidungsprozessen von gemeinschaftlichem, öffentlichem Interesse verweisen. Hier tut sich bereits eine Schwierigkeit auf. Wie sind diese Begriffe von einander zu trennen? Sollen die Begriffe Demokratie und Demokratisierung nur auf den staatlich-politischen Raum und die damit verknüpften Entscheidungsprozesse und Entscheidungsstrukturen sich beziehen?

Umfang und Qualität der hinter diesen Begriffen stehenden Prozesse sagen etwas aus über den erreichten Demokratisierungs- und Mitbestimmungsgrad der Staats-und Gesellschaftsordnung.

 

Strukturprinzipien des Demokratiebegriffs
Von großer Bedeutung wurde die von Montesquieu (1689-1755) entwickelte Lehre, dass die Gewaltenteilung die Sicherung der Freiheit bedingt. Alle echten demokratischen Verfassungen weisen daher die Trennung von Legislative, Exekutive und unabhängiger Rechtssprechung auf.
Weitere Voraussetzungen sind z.B. die Gewährung von Grundrechten, die allgemeine, geheime, periodisch wiederkehrende Wahl (Termin früh genug bekannt, Zeit zur Entscheidung), sowie die, in einem zunehmenden Maße durch das Bestehen von Parteien gewährleistete Form der Aufrechterhaltung des Konkurrenzprinzips (die Chance, die Inhaber der Macht auswechseln zu können).

Im 19. Jahrhundert diskutierte man im wesentlichen zwei Formen von Demokratie: die radikale und die repräsentative. Die radikale Demokratieform ging von den Ideen J.Rousseaus(1712-1778) aus. Man wollte eine möglichst umfassende Selbstbestimmung des Individuums durch Teilnahme am Gemeinwesen ermöglichen. [vgl. grundlegend: Rousseau, J.J.: Du Contrat Social, III.Buch, 15. Kapitel; und z.B.: Naschold, F.: Die Systemtheoretische Variante demokratischer Systeme. In: Probleme der Demokratie heute. PVS-Sonderheft (1970) Nr. 2, S. 5] Im Gegensatz zu Rousseau kommt es bei der repräsentativen Form nicht auf die fast totalitäre volonté générale - auch die eigentlichen Absichten abweichender Gruppen umfassend, an, sondern auf die allgemeine Bejahung der demokratischen Verfahren – der Mehrheitsentscheidung.

Die Selbstverwirklichung des Individuums ist aber nur über die aktive politische Beteiligung am Gemeinwesen selbst zu erreichen. Dieses muss also so konstruiert sein, dass eine umfassende Teilnahme bei allen Entscheidungen möglich ist. Von den beiden Prinzipien Freiheit und Gleichheit gewann in der radikaldemokratischen Vorstellung der Begriff der Gleichheit die Oberhand. Die Freiheit verstand man im Sinn der herzustellenden Gleichheit aller.

Man wollte alle Privilegien abbauen und eine Gesellschaft erzeugen, die in rationaler Diskussion politischen Willen hervorbringt, der sich zu einem einheitlichen Volkswillen zusammenfügt. Dieser Volkswille sollte das Gemeinwohl immer im Auge behalten und dafür sorgen, dass er immer die Oberhand behält gegenüber Teilinteressen. Die Idee der totalen Selbstbestimmung des Menschen steht der Vorstellung einer Repräsentation von Menschen durch andere Menschen immer kritisch gegenüber, zumal es von der Repräsentation vieler durch wenige allzuoft zu einer Herrschaft weniger über viele kam. Die Anhänger der Radikaldemokratie findet man in vielen Lagern, nicht nur bei den frühen liberalen Theoretikern des 19. Jahrhunderts, sondern auch bei den damaligen Marxisten und Anarchisten.

Die Abkehr von der klassischen, unmittelbaren Demokratie war nur deswegen nötig, weil die Staats-und Gemeinwesen zu groß und kompliziert wurden und weil die damals vorhandenen Kommunikationsmittel den Anforderungen nicht mehr gewachsen waren. Der Staatsrechtler Hans Kelsen schrieb 1929 über "Wesen und Wert der Demokratie": "Denn nur in der unmittelbaren Demokratie, die mit Rücksicht auf die Größe des modernen Staates und die Vielfältigkeit seiner Aufgaben keine mögliche politische Form darstellt, wird die soziale Ordnung tatsächlich durch den Beschluß der Mehrheit der politischen Berechtigten, ihr Recht in der Volksversammlung Ausübenden erzeugt. Die Demokratie des modernen Staates ist die mittelbare, die parlamentarische Demokratie, in der der maßgebende Gemeinschaftswille nur von der Mehrheit jener gebildet wird, die von der Mehrheit der politisch Berechtigten gewählt werden. So daß hier das politische Recht – und das ist die Freiheit – sich im wesentlichen zu einem bloßen Stimmrecht abschwächt. Von allen bisher erwähnten, die Idee der Freiheit und sohin die Idee der Demokratie einschränkenden Elemente ist der Parlamentarismus vielleicht das bedeutendste." [Kelsen, Hans, Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1929, S. 24f]

 

Mit dem Begriff Demokratisierung werden die unterschiedlichsten Vorstellungen und Forderungen über die Ordnung des staatlich-politischen und gesellschaftlichen Bereiches verknüpft; die Ausweitung der Mitbestimmung im Universitätsbereich und Arbeitsleben ebenso wie die Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungswesen; die innerparteiliche Demokratie ebenso wie die Durchsetzung plebiszitärer und rätedemokratischer Strukturen in der prinzipiell repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik.

Die Auseinandersetzungen um diesen Begriff waren und sind deshalb so heftig, weil auf der einen Seite aus verschiedenen Gründen die Berechtigung bestritten wurde, den Begriff überhaupt auf den gesellschaftlichen Bereich anzuwenden, auf der anderen Seite aber gerade eine Demokratisierung im Gesellschaftsbereich zu Überwindung der Dichotomie von Staat und Gesellschaft und damit der gegebenen Staats-und Gesellschaftsordnung führen sollte.

Der frühere SPD-Vorsitzende und damalige Außenminister Willy Brandt hatte in einem Aufsatz "(Die Alternative”) im Mai 1969 geschrieben: "Die Auffassung von der Demokratie als einer bloßen 'Organisationsform des Staates' ist konservativ... Die Überwindung des Untertanengeistes ... kann nur durch die gründliche Demokratisierung unserer Schule und unserer Universität erfolgen." Ähnlich hieß es in den "Freiburger Thesen der Liberalen" vom Juli 1971: Liberalismus fordert Demokratisierung der Gesellschaft.


Faßt man für die Bundesrepublik Deutschland die wichtigsten Strukturen und Prinzipien der gegebenen und weiter zu entwickelnden Demokratie zusammen, so sind folgende Punkte hervorzuheben:

Mittlerweile ist es allerdings mehr als berechtigt, den erreichten rechts-und sozialstaatlichen Demokratisierungsgrad, die innerparteiliche und parlamentarische Demokratie als ungenügend festzustellen: Die Bundesrepublik hat gegenüber früheren deutschen Staats-und Gesellschaftsordnungen eine im Sinne des Demokratieverständnisses positive Fortentwicklung, auch in ihrer eigenen Geschichte aufzuweisen. “Defizite” im Demokratieverständnis und der demokratischen Praxis – nicht nur der “Herrschenden”, sondern auch der “Beherrschten können langfristig nur durch eine den Prinzipien demokratischen Zusammenlebens verpflichtete politische Sozialisation und politisch-normative Kultur überwunden werden.


Die Rolle von Parteien
Die Bedeutung der Parteien für das politische Leben ist seit ihrer Herausbildung im England des 17. und 18.Jahrhunderts, in Frankreich Ende des 18. und 19. Jahrhunderts (in Deutschland – wegen seiner dezentralen Herrschaftsstruktur- erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts) so vielschichtig, dass eine gründliche Analyse zugleich eine Geschichte des betreffenden Landes darstellen würde. Für die Bundesrepublik (Bund, Länder und Gemeinden) sind die Parteien nach Mitgliederzahl und Funktion die wichtigsten Organisationen des politischen Lebens.

Anders als frühere Verfassungen betont das Grundgesetz die besondere Bedeutung der Parteien. Nach Art. 21 GG

Den bisher angeführten Struktureigenschaften des politischen Systems der Bundesrepublik kann, gleichzeitig als Spezifizierung des vielschichtigen Begriffes der Demokratie, hinzugefügt werden, dass die BRD eine auf dem Wirken der Parteien basirende Demokratie ist (in missverständlicher Abkürzung oft "Parteien-Demokratie" genannt).

Grenzen einer sinnvollen und notwendigen Organisation des politischen und gesellschaftlichen Lebens durch die Parteien und einer durch sie "gesteuerten" Willensbildung zu Fragen von "öffentlichem Belang" sind schwer bestimmbar. Sie können nur in einem dauernden Prozess der politischen, öffentlichen Auseinandersetzung, der vom Konsens über Grundprobleme der Staats-und-Gesellschaftsordnung getragen ist, in einem Prozess der Annährerung, nicht der Verabsolutierung, immer wieder bestimmt und den Entwicklungen angepaßt werden.


Demokratiebegriff und das Internet
Mit dem Aufkommen des Internets sind Begriffe wie Demokratie 3.0 entstanden. Dieser stellt eine Symbiose aus Demokratie 1. 0 und 2.0 dar. Während 1.0 die herkömmliche parlamentarische Demokratie meint, 2.0 nur begleitend ist, z.B. beim Wahlkampf agiert, wird 3.0 selbst aktiv, macht Politik und wird damit Teil der parlamentarischen Demokratie (z.B. durch online Petionen). [vgl dazu die Erläuterungen unter www.demokratie30.de.]
[Eine ausführliche Darstellung der demokratischen Potentiale der Internetkultur findet sich bei: Meißelbach, Christoph, Web 2.0-Demokratie 3.0?, Stuttgart 2009] Er beschreibt das Internet in der Netzgesellschaft als kommunikationstheoretischen, soziologische und politikwissenschaftliche Schnittstelle, die Dezentralität, Globalität und Digitalität zusammenführt.

Eher kritische Äußerungen sehen das Internet als 'Käfigwunder', das Besucher braucht, mit dem rasch Informationen aufgerufen und verteilt werden können. "Wenn das Internet unser Denken verändert, so verändert es bislang vor allem, was man in dafür vorgesehenen Zimmern und an Tischen tut." [Petra Gehring, Das Netzt denkt nicht, Faz.net vom 10.02.2010] Abgesehen davon, dass sich die räumliche Ausdehnung des Internets dank Smartphones auf eigentlich alle inneren und äußeren Orte erstreckt, ist es aber auch gut, dass das Netz nicht denkt. Den gegenteiligen Fall hat schon Stanley Kubrick in dem SF-Klassiker "2001-Odysee im Weltraum" aus dem Jahr 1968! meisterhaft vorgeführt: Der Computer HAL, Seele eines Raumschiffs, hat einen Fehler 'begangen', kann aber erst nach großen Schwierigkeiten von einem Astronauten abgestellt werden, trotzdem rast das Raumschiff führerlos durch den Weltraum. Aber bei Kubrick wird nicht vernichtet, wie z.B. bei Star Wars, die historisch notwendige Allianz zwischen Mensch und Maschine wird nicht einfach aufgekündigt, sondern in eine neue Dimension gehoben.

Auf das Internet übertragen heißt das, es kann Weiterentwicklungen geben, es muss nicht bei der Verteilung des Vorhandenen bleiben. Wenn das Internet schon heute die weltweite Recherche und Kooperation ermöglicht, warum soll das nicht auch für den demokratischen Entscheidungsfindungsprozess möglich sein? Das Internet ist nur so gut wie die Software die es (an)treibt. Eine Software die es weiterbringen kann, wird im folgenden Kapitel vorgestellt.


Liquid Feedback (LF) – ein Demokratiewerkzeug
Liquid Feedback ist ein opensource-Projekt der Public Software Group e.V.,[http://www.public-software-group.org] einer Gruppe Berliner IT-Spezialisten, die zum Teil Mitglieder der Piratenpartei sind. Eine Beschreibung und Testmöglichkeit findet sich unter http://liquidfeedback.org. Ausführliche Darstellungen bieten auch: Entscheidungsfindung via Software, telepolis, 07.01.2010; Basisdemokratie per Mausklick, Süddeutsche Zeitung (Printausgabe 18.02.2010). Weitere Softwareentwicklungen sind z.B. Adhocracy und Votorola. Die nachfolgenden graphischen Darstellungen beziehen sich ausschließlich auf Liquid Feedback.
LF versteht sich zunächst als Unterstützung und Weiterentwicklung innerparteilicher Demokratie, ist aber nicht auf Parteien beschränkt, sondern kann auch in anderen Organisationen wie z.B Gewerkschafen, dem ADAC oder dem NABU zur Anwendung kommen. Wichtig ist die satzungsgemäße Anerkennung des Werkzeugs/der Software zur Entscheidungsfindung. Wichtig ist die satzungsgemäße Anerkennung des Werkzeugs/der Software zur Entscheidungsfindung, sowie die zentrale Authorisierung der Teilnehmer um Mehrfachabstimmungen zu verhindern.
Zur Zeit werden drei verschiedene Verfahrenszeiträume getestet: 4-5 Tage für Eilanträge, 1 Monat für Standardverfahren und sechs Monate für Langzeitverfahren. Es ist aber jeder Partei/Organisation die diese Software nutzt, erlaubt, sie ihren Bedürfnissen anzupassen. Hier wird aus Platzgründen ein zweistufiges Modell vorgestellt, Eilantrag und Normalantrag.


6.Tag Abstimmung

Einfrierphase:Anträge werden eingefroren,d.h sie können nicht mehr bearbeitet werden
Es können aber noch neue Anträge gestellt werden. 2.Quorum: Es werden mindestens 10% Unterstützer benötigt um an der Abstimmung teilzunehmen.

 

Diskussion 5.Tag  45% 25% 25% 5%
Diskussion 4.Tag  45% 15% 30% 10%
Diskussion 3.Tag  40% 10% 45% 5%
Diskussion 2. Tag  35% 10% 35% 15%
  Antrag A Antrag B AntragC¹ AntragC²
Neu 1. Tag Antrag A      

 

Einfache schematische Darstellung; Irrtum vorbehalten


Variante: Eilantrag
Beispiel: Wie soll mit der Steuer CD verfahren werden?
Verfahrensdauer: 1 Woche
Unterstützersammelphase 1 Tag; 1.
Quorum: Mindestens 10% des Themenparlaments müssen sich für das Thema interessieren, damit es in die Diskussionsphase kommt.
Abstimmphase: 5 Tage
Antrag A: Pro Kauf Steuer CD
Antrag B: Dagegen
Antrag C¹: Juristische Überprüfung und Wiedervorlage in 4 Wochen
Antrag C²: Juristische Überprüfung und Wiedervorlage in 3 Monaten
2. Quorum: Es werden mindestens 10% Unterstützer benötigt, um an der Abstimmung teilzunehmen.


Idealerweise sind bei allen Anträgen Verweise/links zu weiterführenden Informationen und Argumenten angefügt.

Teilnehmer haben sich für das Themenparlament 'Finanzen' angemeldet. Weitere Teilnehmer nur für das Thema 'Steuern'. Die Themenbereiche bekommen Nummern, keine Namen.

Die Initiative A bringt Antrag A neu ein. Die Initiative B bringt Gegenantrag B ein.
Antrag C² schafft es nicht in die Abstimmungsphase.

 

11. und 12. Woche: Abstimmung

Alle Teilnehmer stimmen ab; Zwischenergebnisse werden nicht angezeigt.

Nach der Abstimmung: Veröffentlichung der Ergebnisse; Offenlegung aller Abstimmdaten. Antrag C hat gewonnen.

 

Einfrierphase

 

Diskussion 10.Woche 25% 29% 31% 25%
Diskussion 8. Woche 35% 15% 25% 25%
Diskussion 6.Woche 25%
18% 35% 32%
Diskussion 4.Woche 22% 19% 39% D
Diskussion 2. Woche 12% 27% C  
Neu 1. Woche 15% 25%    
  A B    

 

Einfache schematische Darstellung; Irrtum vorbehalten

 


Variante: Normalantrag Beispiel: Welche Krankenversicherungsart?

Verfahrensdauer: 3 Monate
Unterstützersammelphase: 1 Woche

Antrag A: Einführung einer Kopfpauschale

Antrag B: Beibehaltung Status Quo

Antrag C: Rückkehr zum alten System und Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze

Antrag D: Alle zahlen in die GKV; Zusatzversicherung über PKV


Hinweis: Während des gesamten Abstimmungszeitraums ist es möglich, Anträge abzuändern, oder hinzuzufügen, z.B. die Forderung nach Abschaffung der GKV und nur PKVs zu belassen. In der Einfrierphase können neue Anträge eingebracht, bestehende aber nicht mehr geändert werden.

Diskussion bedeutet nicht inhaltliche Diskussion sondern Vorschläge der anderen Teilnehmer/Unterstützer die Anträge betreffend. Also z.B., ich unterstütze den Antrag, wenn x noch hinzugefügt wird. Oder aber: ich stimme dem Antrag nur zu, wenn y entfernt wird. Wird dem nicht entsprochen und ist die Sache von großer persönlicher Bedeutung für den Antragsteller, so kann er selbst einen Antrag einbringen.

Um den Überblick zu behalten kann der Teilnehmer Voreinstellungen vornehmen: Ich möchte alle neuen Anträge sehen, aber nur die Änderungen zu Themen, für die ich mich interessiere.

 

Delegationsmodell

 

Die Delegation ist ein Akt des Vertrauens. Man kann global delegieren, für einen Themenbereich oder für ein Thema.

 

für den Themenbereich x

 

 

Variante 1

 

Für den Themenbereich x haben diese Teilnehmer ihre Stimme an Yoda delegiert. Yoda kann also vier Stimmen einbringen, 3 und seine eigene. Die Teilnehmer können sich aber natürlich auch entschließen, selbst abzustimmen. Dann hätte Yoda nur seine eigene Stimme. Während der Abstimmung kann man nicht sehen, wie Yoda abgestimmt hat, ebenso wenig kann Yoda sehen, mit wieviel Stimmen er tatsächlich abstimmt. Eine unmittelbare Kontrolle des Abstimmverhaltens ist erst nach Abschluss der Abstimmung möglich.

 

für das Thema y

 

 

Variante 2a

 

Variante 2a: es gibt zwei Delegationen.



für das Thema y

 

 

Variante 2b

 

In Variante 2b haben Amidala und Han Solo zurückgezogen, während Lukas seine Stimme an Amidala deligiert. Ergebnis: Obi-Wan stimmt nur noch mit seiner Stimme ab, Han Solo ebenso und Amidala hat 2 Stimmen.

 

Variante 1 – 2b: Einfache schematische Darstellung; Irrtum vorbehalten

 

 

Schlußbetrachtungen – Für ein paar Algorithmen mehr
Staaten verhalten sich auf der internationalen Ebene wie eine Privatperson, als 'Einzelakteure'. Politische Systeme haben mit der Internationalisierung nicht mitgehalten; weshalb Machtpolitik herkömmlichen Stils immer weniger von Erfolg gekrönt sein wird. Auch die Mitglieder einer Partei sind Einzelakteure und erheben zu Recht Anspruch auf möglichst viel Mitsprache- und Entscheidungsmöglichkeiten; je weiter entfernt von einer Einzelperson ein Vorgang sich abspielt umso weniger effektiv das Ergebnis. Je mehr Mitsprache und Gestaltungsmöglichkeit, umso engagierter der Einzelne.

Das Internet ist schon lange kein Käfigwunder mehr. In einen Käfig sperrt man Dinge vor denen man Angst hat. Aber bereits 1993 gab es einen ersten Schlüssel mit der Software mosaic, die den Internetbrowser Netscape Navigator unterstützte und die Tür zum Netz weit öffnete. Diese Öffnung brachte viele Veränderungen, negative wie positive. LF ist ein weiterer Schlüssel, der eine andere Form von Veränderung bewirken wird.

LF ist als Software nicht schwerer erlernbar als ein Tabellenkalkulationsprogramm oder eines zur Bearbeitung der Einkommenssteuererklärung. Und wer je gesehen hat, wie ältere Menschen sich in die Geheimnisse der Bildbearbeitungsprogramme einarbeiten um ihre digitalen Fotos präsentabel zu gestalten, der wird Alter auch nicht als Hürde sehen. LF bietet die Möglichkeit herauszufinden, was die Mitglieder/Wähler wirklich wollen. Ist es ein Thema, oder das Verfahren, was nicht interessiert? Der Internetzugang muss nicht zu Hause sein; auch Bibliotheken können als Ort der Begegnung einen öffentlichen Zugang bieten.

Aber LF fördert nicht die Bequemlichkeit. Es ist nicht Demokratie per Mausklick. Es gibt keine ja/nein Entscheidungen. Durch den Verzicht auf politischen Einigungszwang kann die bestmögliche Lösung gefunden werden. Die Software unterstützt ein manchmal mühsames Antragsverfahren, welches bereits im Vorfeld durch viele Kompromisse einen Antrag so verwässert, dass die eigentliche Zielrichtung nicht mehr erkennbar ist. Dieser Prozess wird nun transparent gemacht, denn Argumente und Debatten sind von zentraler Bedeutung für eine Demokratie. Das Nachvollziehen von Argumenten entlang allgemein gültiger Referenzsysteme ist keine geradlinige Angelegenheit, sondern erfordert kritische Intelligenz und Fähigkeiten. Viele Verästelungen können aufgezeigt werden, ein kompliziertes Verfahren wird so leichter durchführbar. Wie in der analogen Welt muss ein Antrag gut begründet werden, der Initiator muss um Stimmen werben, z.B. per Twitter, Blog, Telefon, oder Kneipengespräch. All dies bedeutet Arbeit. Demokratie ist kein Freizeitvergnügen. LF ist der Übergang von 'Apps' zu Ops'. Während erstere vielfältige Möglichkeiten für die 'iGeneration'/die Generation Smartphone bereithält, bietet 'ops' (für Optionen) vielfältige Möglichkeiten für die Demokratie.


24. Februar 2010