Bildungspolitik


Die große Koalition der Mutlosen oder das lange Leiden der Bundesrepublik D

Dr. Angelika Brinkmann

 

Beitrag als PDF-Datei

 

Ende Februar 1958 legten Bergleute auf Zechen in Essen und Umgebung die erste “Feierschicht” der noch nicht ganz 10 Jahre alten Bundesrepublik ein. Am 19. Januar 1978 rollt der letzte in Deutschland gebaute VW-Käfer vom Band. Am 16.5.2008 schließt das Nokia-Werk in Bochum. Diese Ereignisse erstrecken sich über 50 sehr wechselvolle Wirtschaftsjahre, zunächst für die alte Bundesrepublik und seit 1990 für den vereinigten Staat.
Die Kanzlerin stellt die Regierungszeit unter das Motto “investieren, sanieren, reformieren”. Das klingt eher abstrakt technokratisch und dient nicht dem Bürger. Es geht um das Staatsgebilde, der Bürger als Steuer-,Beitrags- und Gebührenzahler versucht, sich darin zu finden, denn integrieren hat die Kanzlerin nicht vorgesehen. Dieses Spannungsverhältnis analysiert der nachfolgende Artikel anhand der Bereiche Bildung und Arbeit.

 

Vor langer Zeit in einer nicht so weit entfernten Region...

Die Krise 1958 kam überraschend, denn in den Jahren zuvor war der Bedarf an Kohle noch so groß, dass sie aus den U.S.A. importiert werden musste. Seit Mitte der 50er Jahre wurden im Ruhrgebiet Gastarbeiter angeworben um speziell den Arbeitskräftemangel im Bergbau auszugleichen. Zusätzlich wird der Bau von Wohnungen und Häusern in Zechennähe unterstützt; es gibt Lohnerhöhungen von 10% obwohl der Produktivitätsfortschritt bei knapp 2% liegt.

Die Gründe für den Niedergang sind bekannt: preiswertere Importkohle, Öl, vor allem Heizöl verdrängt die heimische Steinkohle. Aber auch die Erhöhung des Kohlepreises 1957 gegen den Willen Ludwig Erhards, der den Energiemarkt liberalisieren möchte. Die Kohle verlor an Wettbewerbsfähigkeit und die Kumpel demonstrieren. Um eine Krise im Ruhrgebiet (Erhard: das “Ruhrgebiet könnte in politischen Flammen aufgehen”) zu vermeiden, wird im September 1959 eine Ölsteuer von 30 Mark pro Tonne erhoben. Diese Sondersteuer hilft nicht der Steinkohle und der Strukturkrise im Bergbau; immer mehr Zechen werden stillgelegt auch wenn es Mitte der 60er Jahre gelingt, keinen Bergmann ins “Bergfreie” fallen zu lassen. Dies geschieht erst mit der ersten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik Ende der 60er Jahre. Mittlerweile (ab 1966) heißt der Wirtschaftsminister Schiller und kopiert trotzdem seinen Vorgänger Erhard: Er startet die 'konzertierte Aktion Kohle', die u.a. zur Gründung der Ruhrkohle AG führt und den Bergbau neu strukturieren soll. [Die Angaben basieren auf der ausführlichen und gelungenen Darstellung von: Christoph Nonn: “Die Ruhrbergbaukrise, Entindustrialisierung und Politik, 1958-1969, 2001] Das Jahr 1958 war auch das letzte Mal, dass der FC Schalke 04 den DFB Meisterpokal gewann, damals hieß das Stadion noch 'Glückaufkampfbahn' und beim Rivalen BVB 09, Stadion 'Rote Erde' (eingeweiht als 'Kampfbahn' Rote Erde am 26.06.1926, umbenannt 1928 in Stadion).

Im Wahlkampf 1961 hatte Willy Brandt gefordert, der Himmel über der Ruhr müsse wieder blau werden; dass dies über Zechenschließungen und nicht durch Umweltpolitik erreicht werden würde, hatte er sich nicht vorgestellt. Im Februar 2007 beschließt der Bundestag einen Ausstiegsplan aus der Steinkohleförderung. Am 27.06.2008 stellt in Duisburg im Bergwerk Walsum eine von den noch verbliebenen acht Steinkohlezechen die Förderung ein. Bereits heute sind einige Zechen Industriedenkmäler. http://www.lwl.org/LWL/Kultur/wim/S/zollern

 

Im Jahr 1978 hatte fast die Hälfte der knapp eine Millionen Arbeitslosen in Deutschland keine Berufsausbildung. Und wieso rollte der letzte Käfer vom Band? Es lag nicht nur daran, dass es ein höheres Lohnniveau gab und die Kunden mehr Fahrkomfort verlangten. Es ist das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren, nicht zuletzt einer verfehlten Unternehmensstrategie. Der Kunde hatte sich geändert, das Auto aber nicht. Auch hier gab es ein berühmtes Beispiel: Das Ford-Modell “T”, welches der Käfer als meistgebautes Auto 1972 abgelöst hatte.
Design und Technik stammten aus den 30er Jahren und noch immer basierten alle VW-Fahrzeuge auf dem luftgekühlten Heckmotor. Ein ungünstiges Wechselkursverhältnis zum Dollar und schärfere Sicherheits-und Abgasvorschriften in den U.S.A. machten das Auto teurer. Damals wurde eine Vorgehensweise entwickelt die heute als Erfolgsmodell unter dem Begriff “Plattformstrategie” in der Automobilindustrie bekannt ist. VW baut auf Basis weniger Grundmodelle – Plattformen – zahlreiche Modelle der Konzernmarken Audi, Seat. VW etc. Am 30 Juli 2003 läuft der letzte VW-Käfer weltweit im Werk in Mexiko vom Band.

Eine ähnliche Form der subventionierten Arbeitsplatzschaffung wie bei Nokia gab es auch in der DDR. Ein Beispiel für die sich entwickelnde Arbeitsteilung und ihre Folgen kann in dem Dokumentarfilm “Wittstock, Wittstock” von Volker Koepp aus dem Jahr 1995 besichtigt werden. Der Film beginnt im Jahr 1974, und begleitet drei Mitarbeiterinnen des Obertrikotagenwerkes, welches dorthin gesetzt worden war um der strukturschwachen Region Arbeitsplätze zu verschaffen über fast zwei Jahrzehnte, zunächst 1974, 1984 und dann 1992. 1993 wird der Betrieb geschlossen. Die Auslagerung von Tätigkeiten wird an zwei Einstellungen deutlich: Zu Beginn sieht man viele Maschinen die produzieren, am Schluss geht der Regisseur mit einer Protagonistin durch eine leere Halle; die Frau versucht sich zu erinnern, wo ihr Arbeitsplatz war.

Die Schließung des Nokia-Werks kann also eigentlich nicht überrascht haben: Wenn in der Bundesrepublik 80 Millionen Einwohner 100 Mio. Mobilfunkgeräte haben, warum sollen hier noch welche produziert werden, wenn die Absatzmärkte ganz offensichtlich woanders sind? Der Ersatz veralteter Geräte läßt sich leicht durch Import bewerkstelligen. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass einfache Produktion, auch von sogenannten high-tech Produkten, nicht mehr subventioniert werden darf. Wenn schon Bundes/Landes-,EU-Mittel für Arbeitsplätze aufgewendet werden, dann für 'nachhaltige', d. h. ortsgebundene, die nicht verlagert werden können.

...und Gerechtigkeit für alle?

Es gibt seit langem eine vielseitige Gerechtigkeitsdebatte. Es geht um Geld und die Verteilung der Lasten.

Am 21. Januar 1957 verabschiedet der Bundestag das Rentenreformgesetz gegen den Widerstand des Wirtschaftsministers Ludwig Erhard. Die automatische Rentenangleichung an die Preissteigerung ist für ihn gleichbedeutend mit dem Anfang vom Ende dessen was er unter 'sozialer Marktwirtschaft' versteht. Wachstum entstehe durch die Freiheit wirtschaftlich handelnder Individuen. Wohlstand für alle entstehe nicht durch Umverteilung.
Der Begriff 'soziale Marktwirtschaft' geht zurück auf Alfred Müller-Armack; er war zusammen mit Walter Eucken, Wilhelm Röpke u.a. Teil des Freiburger Kreises. Laut Müller-Armack hat die soziale Marktwirtschaft nicht mit der Rückkehr zu einem überwundenen Liberalismus zu tun. Der Marktwirtschaft gehe es um eine Nutzbarmachung der unternehmerischen Initiative für die volkswirtschaftlichen Belange.

Am 4. Februar 1957 erscheint Erhards Buch mit dem noch heute so populären Titel: Wohlstand für alle. Ein Kapitel trägt die Überschrift: Versorgungsstaat, der moderne Wahn. Erhard ging es um eine starke Regierung die einen freien Markt kritisch überwacht; Kurt Schumacher (SPD) stand dieser Haltung sehr skeptisch gegenüber. So lange es funktionierte, glaubten die meisten Bürger Erhard.


Mit der Formel 'für alle' läßt sich heute noch Politik machen. Es gibt auch Variationen wie beim Zukunftskongress der SPD 2008, Aufstieg und Gerechtigkeit oder aber gleich: 'Aufstieg für alle' [Klaus Ness/Klaus Faber: Aufstieg für alle. In: Perspektive 21, Brandenburger Hefte für Wissenschaft und Politik, Nr. 34, Mai 2007] Neben unterstützenwerten Einzelvorhaben wie dem 'Schüler-BAföG' findet sich dann aber auch folgendes: Leistung muss sich wieder lohnen. Wer sich anstrengt, dem sollen wieder alle Türen offen stehen.(S. 7) Ein weiteres Ziel ist eine höhere Studierendenquote.(S. 10). Wo soll das konkret hinführen? Wenn die Arbeitsplätze tatsächlich jetzt schon vorhanden sind, kann Brandenburg dann niemanden aus Berlin gebrauchen? Möchte niemand aus Berlin nach Brandenburg? Denn Berlin hat zu viele arbeitslose Akademiker. Basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2006 haben 9% der Arbeitslosen zwischen 25-64 einen Universitätsabschluss, einen Meister oder sogar eine Promotion. Generell ist der Akademikeranteil in Berlin hoch: 34% der Berliner zwischen 25-64 haben einen Universitätsabschluss oder sogar promoviert. Die Präsidentin des Statistischen Landesamtes Berlin-Brandenburg vermutet, dass sich in Berlin mehr gut ausgebildete um einen entsprechenden Arbeitsplatz bemühen, oder aber trotz Arbeitslosigkeit nicht in eine andere Statdt ziehen wollen. [Marin Majica: Berlin lernt nichts dazu, Berliner Zeitung, 18.12.2007]

Unter diesen Umständen mutet es dann seltsam an, wenn abnehmender Aufstiegswille in bestimmten Milieus beklagt wird. [so z.B. Wolfgang Schröder: Vorsorge ist besser als Nachsorge, in: Perspektive21, Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik, Heft 33, Februar 2007, S. 67] Hier muss dann gefragt werden, wie weit der Aufstieg reichen soll und wer dann Platz macht für die Nachdrängenden?

Um konstruktive Bildungspolitik zu machen ist es aber außerordentlich wichtig, hier genaueres zu erforschen. Es ist richtig, dass Berlin über den Bedarf ausbildet. Aber, um was für arbeitslose Akademiker handelt es sich? Sind es Fachärzte, die aus unterschiedlichen Gründen in Brandenburg keine Praxis aufmachen wollen oder können? Warum gelingt es nicht, wenigstens einen geringen Prozentsatz dieser hochqualifizierten Arbeitslosen dort unterzubringen?

Fazit: Die Formel 'für alle' läuft bei einer so umfangreichen ubiquitären Anwendung Gefahr, zu einer Leerformel zu werden. Notwendige Reformen in diesen Daseinsbereichen werden hierdurch unter Umständen deshalb nicht erleichtert, weil sie mit Hinweis auf die – vielfach bewußt oder unbewußt mißverstandenen – politischen Vorstellungen zurückgewiesen werden. Eine gesellschaftspolitische Forderung wird so begrifflich konzentriert, beliebig verwendbar für alle Parteiprogramme und Garant für einfachen Aktionismus. Damit zu einer weiteren Variante: Bildung für alle.

 

Bildung- eine unendliche Geschichte? ...oder

Die Kanzlerin hat nunmehr die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen; um darzulegen, warum das keine besonders zielführende Idee ist, hier zunächst ein Rückblick in Zitaten.

“Die Bundesrepublik steht in der vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der europäischen Länder neben Jugoslawien, Irland und Portugal.”[Georg Picht “ Die deutsche Bildungskatastrophe,” 1964, S. 16]


“Bildungsnotstand heißt nicht wirtschaftlicher Notstand. Der bisherige wirtschaftliche Aufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen....Aber die politische Führung in Westdeutschland verschließt vor dieser Tatsache beharrlich die Augen und läßt es in dumpfer Lethargie oder in blinder Selbstgefälligkeit geschehen, daß Deutschland heute der internationalen Entwicklung der wissenschaftlichen Zivilisation immer weiter zurückbleibt.” [Picht, S. 17]

“In der modernen Leistungsgesellschaft heißt soziale Gerechtigkeit nichts anderes als gerechte Verteilung der Bildungschancen. ...denn von den Bildungschancen hängen der soziale Aufstieg und die Verteilung der Einkommen ab. Das Einkommen spielt aber heute eine viel größere Rolle als jenes Lieblingsthema der Ideologen, das Eigentum. Der gesamte soziale Status, vor allem aber der Spielraum an persönlicher Freiheit, ist wesentlich durch die Bildungsqualifikationen definiert, die von dem Schulwesen vermittelt werden sollen.” [a.a.O. S. 31]

“Wir meinen außerdem, daß es dringend notwendig wäre, das unheilvolle Berechtigungswesen einmal genauer zu untersuchen, an dem Herr Picht stillschweigend vorübergeht. In einer Nummer von Christ und Welt....sucht die Schriftleitung dieser Zeitschrift eine Redaktionssekretärin, selbstverständlich ...mit Abitur. Wir stellen demgegenüber ganz eindeutig fest: Ein Abiturient, der nicht studiert, verschenkt die Qualifikation, die er erworben hat. Die nichtakademischen Berufe brauchen das Abitur nicht als unabdingbare Voraussetzung. Gut verdienen kann man auch ohne Abitur – und vor allem schneller.” [Gerhard Brede: Georg Picht und die Philologen, Zeitschrift für Höhere Schule, Nr. 4, April 1964,abgedruckt in Picht, S. 223f]

Ergänzung: Anläßlich eines Aufenthalts in Leipzig, im Spätsommer 2007, kam die Autorin an Aushängen für Lehrstellenangebote vorbei. Gesucht wurden u.a. drei Auszubildende im Friseurhandwerk, Einstellungsvoraussetzung: Abitur. Nachfrage bei der eigenen Friseurin, warum speziell bei diesem handwerklichen Beruf Abitur verlangt würde? Antwort: Das Friseurhandwerk sei ein Dienstleistungsberuf und man müsse an die Kunden denken. Ein wesentlicher Faktor sei das Kundengespräch und um hier ein bestimmtes Niveau bieten zu können, sei das Abitur die geeignetere Voraussetzung.

Wie viele Abiturienten die Wirtschaft und überhaupt das öffentliche Leben in Wirklichkeit braucht, ist bisher noch nirgends zuverlässig ermittelt worden. ...Ob freilich Wirtschaft, öffentlicher Dienst usw. diese großen Akademikerzahlen einmal werden aufnehmen können, steht noch dahin. Es könnte passieren, daß die ehemalige industrielle Reservearmee durch eine akademische Reservearmee abgelöst wird. Jedenfalls zeigt sich bei uns in Deutschland bisher ein Mangel an Akademikern nur in bestimmten Sparten, während in anderen Bereichen sogar leichte Überschüsse zu verzeichnen sind.” [Prof. Dr. Hans Heckel (Deutsches Institut für internationale pädagogische Forschung Frankfurt/M): Kritische Bemerkungen zu der Artikelserie von Georg Picht; abgedruckt in Picht, S.234f.]

Die damalige bayrische Landtagsabgeordnete und spätere Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Hildegard Hamm-Brücher resümierte: Kein schulpolitischer “Morgenthau-Plan” (Der Morgenthauplan sah die Zerstückelung Deutschlands vor, das ein Agrarstaat werden sollte, A.B.) hätte sich den schleichenden Ruin unserer einst so blühenden Schul-und Bildungswesens erfolgversprechend ersinnen können.[abgedruckt in Picht S. 235]


Ökonomische und funktionalistische Argumente für die Bildungsexpansion, Bedarfsprognosen und Katastrophenwarnungen waren ebenso schnell überholt wie die Versprechung eines generellen Aufstiegs durch Bildung. [Andreas Flitner: Für das Leben – Oder für die Schule. Pädagogische und politische Essays, 1987, S. 16.]
Die Anzahl der Schulabgänger ohne Abschluß lag 1984 etwas über 84.000. Das sind etwa 9% des Altersjahrgangs und fast 20% der Hauptschulabgänger. [Flitner, S. 137]

Die drei tragenden Säulen des Beschäftigungssystems, Arbeitsrecht, Arbeitsort, Arbeitszeit- werden angefressen. Das bringt Fortschritt und Verelendung zugleich: für manchen gewiß Befreiung von der Härte des bisherigen Arbeitstaktes, für andere vor allem jedoch neue materielle Unsicherheit, wankenden Kollektivschutz und damit wiederum Umwandlung von gesellschaftlichen Veränderungen in persönliche Risiken....Die zunehmenden Betreuungs-und Beratungsdienste sind Anzeichen dafür wie sehr die Risiken als individuelle verstanden, also entpolitisiert und persönlich bearbeitet werden. [a.a.O., S. 216.]

Er erhebt die Forderung nach einem “Jugendausbildungsgesetz”, das in klarer staatlicher Regelung für jeden Jugendlichen entweder eine Lehre oder einen Schulabschluss auf Sekundar-II-Niveau garantiert. [a.a.O., S.138]
“Unabhängig aber von den politischen Lösungen, die für die zeitlich anschließenden Probleme gefunden werden müssen, ist die Sicherung von Ausbildungschancen und die Befreiung von dem Druck frühzeitiger Dequalifikation und Hoffnungslosigkeit im schulpflichtigen Alter unerläßlich. Sollen die Bemühungen der letzten zwanzig Jahre um Chancengleichheit oder Chancenverbesserungen und sollen alle Reformbemühungen seit den sechziger Jahren auf der untersten Stufe nicht gewissermaßen ihren Boden verlieren, so brauchen wir eine gesetzliche Sicherung für eine vollqualifizierende Ausbildung oder Schulbildung für alle Jugendlichen.” [a.a.O., S. 139.]


“Elf schlecht genützte Jahre ist es her, da rief Bundespräsident Roman Herzog die Bildung als “Megathema” aus. Im selben Jahr erhob der CDU-Parteitag die Bildung zur sozialen Frage des 21. Jahrhunderts. Heute redet Angela Merkel wieder, als hätte sie das Thema neu entdeckt: Bildung sei die zentrale Aufgabe des kommenden Jahrzehnts. Die Bundesrepublik müsse eine Bildungsrepublik werden.” Harald Jähner: Dieses schlaue Land ist einfach zu blöd, Berliner Zeitung, 13.06.2008.

”Aber die kurze Phase einer von allen Parteien gewollten Bildungsexpansion ging schon nach der Ölkrise von 1973 zu Ende. Im selben Jahr scheiterte die Idee, für Deutschland einen Bildungsgesamtplan zu beschließen. Die CDU wollte sich nicht von der sozialliberalen Mehrheit Gesamtschulen als Regelschulen einhandeln. Seitdem herrschte in der Kultusministerkonferenz ein Bildungsbürgerkrieg – bis kurz vor der Wiedervereinigung...Reformen dauern in Deutschland Jahrzehnte. Schon 1972 hatte die OECD von den Westdeutschen einschneidende Reformen gefordert. Die OECD empfahl den Aufbau von Ganztagsschulen. Erst 30 Jahre später legte die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) gegen den Widerstand der Union ein mit vier Milliarden Euro ausgestattetes Ganztagsschulprogramm auf. ...Den Politikern dämmert bis heute nicht, dass neben der Forschung auch eine gute Lehre viel Geld kostet. ...Auf dem Bildungsgipfel im Herbst wird sich zeigen, ob für die von Angela Merkel ausgerufene Neuorientierung der Atem reicht. Denn gleichzeitig müssten dann die positiven Ansätze einer besseren Kinderbetreuung, die Fortsetzung des Hochschulpakts und des Elitewettbewerbs besiegelt werden.” Uwe Schlicht: Die Beweglichkeit der Landschildkröte, Der Tagesspiegel, 15.06.2008.

 

... und ewig grüßt das Murmeltier!

Nach 45 Jahren permanenter Diskussion und gelegentlichen Reformbemühungen, stellt sich die Politik und die Gesellschaft in wesentlichen Teilen als veränderungsresistent dar im Bereich Bildungspolitik. Statt des Bildungsbürgerkriegs flammen immer wieder Scharmützel auf, die aber auch nicht verdecken können, das Bildungspolitik zu allererst nach dem Motto funktionierte ...und ewig grüßt das Murmeltier (Groundhog Day, U.S.A., 1993). In diesem Film findet sich ein überheblicher Fernsehwettermann, gespielt von Bill Murray, in einer Art Zeitfalle wieder, die ihn immer wieder dieselben 24 Stunden des Tages wiederholen läßt. Erst als er erkennt, dass er sich und sein Verhalten ändern muss, läßt ihn die Zeitfalle los.

Welche Lehren lassen sich daraus für die Bildungspolitik ziehen? Zunächst einmal muss Ursachenforschung betrieben werden. Warum gab und gibt es so wenige Fortschritte? Liegt es am Föderalen System, politischen Ideologien oder einer permanenten Verkettung unglücklicher Umstände? Oder gibt es einen stillschweigenden gesellschaftlichen Konsens?

Zur genaueren Erforschung/Erarbeitung dieser Problemstellung bietet sich ein von der früheren Bildungsministerin Edelgard Bulmahn gemachter Vorschlag an. Sie reagierte damit auf eine Klage zweier Teilnehmer beim Zukunftskongress der SPD 2007. In dem von ihr geleiteten Forum beklagten zwei Professoren den Umstand, dass es nicht möglich sei, ein transdisziplinäres Promotionsthema im Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften durchzuführen; die Gremien der Universität hätten darauf hingewiesen, dass ein solches mit Nachteilen auf dem akademischen Arbeitsmarkt verbunden sei. Im März 2008 machte sie auf einer Tagung folgenden Vorschlag: Einrichtung einer Professur für transdisziplinäre Aspekte im Bereich Geistes-und Sozialwissenschaften, die allerdings nicht befristet sein soll. Wie sie betonte, ist es für Naturwissenschaftler mittlerweile unabdingbar in transdisziplinären Arbeitsgruppen zu forschen, weil dies ihre Fragestellung erfordert. Gleiches sollte für den Bereich der Geistes-und Sozialwissenschaften gelten.

Es ist natürlich entscheidend, wie diese Fragestellung erarbeitet wird. Gibt es ein Gremium, dass sie festlegt? Kann jeder an der Hochschule einen Vorschlag einreichen? Genausowenig darf es geschehen, dass eventuell einzelne Fächer/Fachrichtungen zugunsten einer solchen Einrichtung 'abgeschmolzen' werden. Aber wenn dann eine Gruppe von Erziehungswissenschaftlern, Juristen, Ökonomen, Psychologen u.a. sich des Themas annimt, wird die Bildungspolitik vieleicht einen Weg aus der Zeitfalle finden.


Nachfolgend zwei Beispiele, wie berühmte Autoren sich eine ideale Kindererziehung und das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen vorstellten.

 

Emil mit und ohne Deteketive

Der Grundgedanke, der durch alle Werke Rousseaus' hindurchgeht: dass der Mensch gut aus den Händen der Natur kommt und erst durch die Gesellschaft verdorben wird, legt nahe, welch außerordentliches Gewicht Rousseau auf die richtige Erziehung legen muss, und weist auch schon die Richtung, in die seine diesbezüglichen Forderungen gehen. Er hat sie in dem Erziehungsroman “Emile” dargelegt. Im einzelnen knüpft er vielfach an Forderungen John Lockes an. Der Kerngedanke aber ist doch von Rouseaus Geist und hat durch ihn einen nachhaltigen, bis heute andauernden Einfluss auf die Grundsätze der Pädagogik erlangt: Der heranwachsende Mensch muss ferngehalten werden von 'verbildenden' Einflüssen. Alles kommt darauf an, die grundsätzlich in jedem Menschen liegende gute Naturanlage auf natürliche Weise werden und reifen zu lassen. Die Aufgabe der Erziehung ist daher eine negative, sie besteht im Festhalten aller Einflüsse des Gesellschaftslebens, die diesen Prozess stören können.
Im 'Glaubensbekenntnis eines savoyardischen Vikars' das im 'Emile' enthalten ist, hat Rousseau seine Stellung zur Religion festgelegt. Sie ist gleich weit entfernt vom kirchlichen Offenbarungsglauben wie von dem aggressiven Atheismus der Materialisten. Aber auch von der Vernunftreligon eines Voltaire ist Rousseau weit entfernt. Seine Religion ruht ganz auf dem Gefühl. Das Gefühl sagt mir, dass ein Gott ist. Mehr ist nicht notwendig, und mehr zu erkennen ist auch nicht möglich. “Auf diese Weise betrachte ich Gott in seinen Werken. Je mehr ich mich anstrenge, sein unendliches Wesen zu durchschauen,desto weniger begreife ich es. Er ist, aber das ist mir genug. Je weniger ich ihn begreife, um so mehr bete ich ihn an.” (Rousseau, Emile, S. 195)


In Erich Kästners berühmten Roman “Emil und die Detektive” wird Emil Tischbein,ein Junge vom Land, auf dem Weg in die Stadt ausgeraubt. Die 140 Mark waren von seiner Mutter (einer hart arbeitenden, alleinerziehenden Friseursalonbesitzerin) für die Oma in Berlin gedacht. Emil ist wild entschlossen, sich das Geld zurückzuholen. Dies gelingt mit Hilfe einer großen Gruppe Berlinder Kinder, als jugendliche Detektive, die sich mit ihm spontan solidarisieren. Kästner setzte sich als Lobbyist für Kinder ein und glaubt an Selbsterziehung. In seinen Kinderbüchern wendet sich der Autor wiederholt gegen die Geringschätzung von Kindern, so z. B. als Emil von der Belohnung für die Ergreifung des gesuchten Verbrechers ein Geschenk für die Mutter kaufen möchte und sein Onkel ihm als Kind diese Vollmacht nicht geben will.

Kästner versucht die Welt zu verändern, indem er seinen Lesern Vorbilder gibt für bessere Menschen oder Ihnen in einem Zerrspiegel das eigene Verhalten zeigt. Dabei geht es um die Rücksichtslosigkeit, den Mangel an Rückgrat und Selbstbewußtsein, um Ungerechtigkeit und Scheinmoral, sowohl der Politiker als auch der Kirche und der Verantwortlichen in der Industrie.
Er läßt niemanden aus bei seiner Kritik, weder die Kinder – denn in jedem Buch gibt es neben den vorbildlichen Kindern mindestens eines, das rücksichtslos agiert und sich nicht um die andere und ihre Not kümmert, noch die Erwachsenen. [Birgit Ebbert: Erziehung zu Menschlichkeit und Demokratie Erich Kästner und seine Zeitschrift 'Pinguin' im Erziehungsgefüge der Nachkriegszeit; Europäische Hochschulschriften Reihe XI, Bd Nr 583,1994,S. 97]

Es ist diese Kästnersche Ausgewogenheit, sowohl in Belehrungen /Belohnungen wie Schuldzuweisung, die heutiger Bildungspolitik gut tun würde.

 

Neid und andere Kleinigkeiten

Lenski definierte auf der Basis breiten historischen und ethnologischen Materials “soziale Schichtung als den Verteilungsprozess in menschlichen Gesellschaften, durch den knappe Werte verteilt werden.” (Gerhard Lenski: Macht und Privilig, 1973.)
Die soziale Schichtung einer Gesellschaft ist zugleich Ergebnis und Ausgangsbasis derjenigen Prozesse, die als soziale Auf- und Abstiegsprozesse oder auch als vertikale Mobilität bezeichnet werden. Anders formuliert die soziale Gliederung einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt kann als Momentaufnahme der kontinuierlichen Prozesse der vertikalen Mobilität aufgefasst werden.
Eine sehr alte Forschungsfrage der Soziologie wie der Sozialgeschichte ist es, Statik und Dynamik der “sozialen Gliederung” einer Gesellschaft zu erfassen und die Ursachen (Marx: den “Bewegungsgesetzen”) für Stabilität und Wandel der Schichten zu erforschen.

Es läßt sich feststellen, dass die meisten Untersuchungen zur vertikalen Mobilität sich auf die Berufsmobilität konzentrieren. So kommt dem Faktor Bildung eine große Bedeutung zu. Seit Mitte der 60er Jahre und der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklungen seit 1973 sind Abitur und selbst eine abgeschlossene Hochschulausbildung keine Garantie mehr für eine sich unmittelbar anschließende, aufsteigende Berufskarriere.

Es wurde bereits an anderer Stelle (vgl. dazu den Beitrag “2006-Odyssee in der Bildungspolitik, Abschnitt ;Große Erwartungen, Konzertierte Aktion auf dieser Webseite) vermutet, dass ein Grund für die mangelnde Durchschlagskraft von Bildungspolitik im Spannungsverhältnis vom Wunsch nach Privilegien und dem 'Bildung für alle' Anspruch der Politik liegen kann. Im französischen Sprachgebrauch steht Privileg für Auslese und bezeichnet eine führende soziale Schicht. Auch wenn die Privilegien für Adelige abgeschafft wurden, so besteht doch ein großer Wunsch nach Vor- und Sonderrechten oder gar einer Alleinberechtigung. Wie eine auf Egoismen fixierte Gesellschaft aussehen könnte, wird sehr anschaulich in einem philosophischen Essay beschrieben.[Christian Erbacher: Entwurf einer egoistischen Welt; Die Zeit, Nr. 43, 14.10.2004]

Es bedarf auch einer genaueren Betrachtung des Neidbegriffs. Hierzu stellt Sighard Neckel fest: Die Kultur moderner Gesellschaften stellt sich als Schaufenster sozialer Gegensätze dar. In den Symbolwelten des Alltags spiegeln sich die Übergänge zwischen Knappheit und Überfluß, Aspiration und Mißlingen. Da kulturelle Praktiken gesellschaftliche Rangordnungen repräsentieren, beruht die Macht der Unterscheidung darauf, durch Distinktionen Vorteile und Prestige zu erlangen. [Sighard Neckel: Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft, F/M,2000, Vorwort]

Er unterscheidet zwischen Neid, Mißgunst und Eifersucht. Man kann jemanden aufgrund einer besonderen Begabung 'beneiden', ohne mißgünstig zu sein; dann ist das 'Beneiden' ein Akt der Bewunderung. Mißgunst und Eifersucht sehen den Beneideten als Urheber des eigenen erfolglosen Begehrens und als einen Gegner, der es möglichst nicht besser haben soll als man selbst. Neid entsteht häufig dort, wo er sich auf Werte und Güter bezieht, die nicht unendlich vermehrt werden können, wie z.B. eine begehrte Person, eine seltene Stelle oder der Jackpot im Lotto.[Neckel, S. 115]

Neid entsteht also durch das Gefühl, ob man besitzt was man begehrt, vor allem wenn andere in vergleichbarer Position darüber verfügen. Neid ist aber eigentlich immer möglich, weil Mangel zu einer Dauererfahrung werden kann. Für die Überwindung von Neid sind Moral und Gerechtigkeit von großer Bedeutung.
Laut Neckel ist die Frage der Leistungsgerechtigkeit von zentraler Bedeutng zur Zivilisierung des Neids. Hier sieht er zwei Schwierigkeiten:

die Kritierien von Leistungsgerechtigkeit verlieren sich in völliger Unkenntlichkeit in der heutigen Ökonomie;
andere Verteilungsprinzipien ersetzen Leistungskriterien und werden wichtiger: Risiko, Erfolg, Vererbung;

So verlieren Gerechtigkeitsnormen, die auf Leistung basieren an Bedeutung, ohne dass sich soziale Ungleichheit verringert. “Ob die eigene Position mehr von Markt- oder Sozialstaatslagen bestimmt ist, ändert nichts an ihrer grundsätzlichen Konkurrenzbestimmtheit. ...Der Erfolg erfolgt – oder auch nicht. Leistung, Bemühung, Anstrengung sind nur noch die Eintrittskarten, um überhaupt dabei zu sein.” [Lessenich, Stephan/Nullmeier, Frank: Einleitung. Deutschland zwischen Einheit und Spaltung; in: diess. (Hg): Deutschland eine gespaltene Gesellschaft, F/M, 2006, S. 17]

Für die Bildungspolitik kann das bedeuten: Statt das Abitur weiterhin zur einzigen erfolgversprechenden Bemessungsgrundlage und/oder unheilvollem Berechtigungswesen für berufliches Weiterkommen zu erhalten, müssen auch “sichere Berufsperspektiven” (so der hess. Kultusminister Jürgen Banzer im Tagesspiegel, 6.7.08) für Hauptschüler geschaffen werden. Solange der Eindruck vorherrscht, ohne Abitur sei nur sehr schwer an eine Lehrstelle zu kommen, werden sich auch solche Schüler dahin orientieren, die kein Studium aufnehmen wollen. Es muss dann auch bedeuten, dass Hauptschüler beruflich aufsteigen können, so sie das wollen und nicht auf einfache Tätigkeiten reduziert werden. Anders formuliert: Inwieweit die zweifellos erfolgte Egalisierung der Zugangschancen zum Bildungssystem und zu den Berufskreisen der traditionellen Kanäle der sozialen Mobilität von anhaltender Wirkung ist, kann sich erst in Zeiten von nachlassendem Wirtschaftsaufschwung zeigen.
Denn Bildung definiert nicht nur den sozialen Status, sie verfestigt diesen.

 

Die kleinen Strolche oder Familiengeschäfte

Das Thema “Emanzipation der Frau” hat in der Anfangsgeschichte der Bundesrepublik vor allem als Tagungs-und Akademiethema eine Rolle gespielt, ohne Breitenwirkung und verändernde Kraft. Mitte der 60er Jahre, fast zeitgleich mit dem Aufkommen wirksamer Verhütungsmittel, begann eine gesellschaftswissenschaftliche und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung um Ehe-Familie-Frau-Kindererziehung. Nachfolgend einige Themen, die seit Mitte der 60er Jahre auf Struktur und Funktion der Familie einwirkten.

Die Rolle der Frau und ihre Emanzipation wurden als gesellschaftspolitische Forderungen untermauert und von einer breiten wissenschaftlichen und journalistischen Aktualisierung begleitet, vor allem im Zusammenhang mit den teils heftigen Auseinandersetzungen um §218 StgB (Strafgesetzbuch), der in seiner bisherigen Fassung die Tötung des menschlichen Embryos und damit die Abtreibung unter Strafe stellte.
Die intensive Diskussion um die 'deutsche Bildungskatastrophe' (Georg Picht) lenkte fast zwangsläufig von der gegebenen Chancengleichheit im Bildungssystem die Aufmerksamkeit auf die Sozialisationsbedingungen der Kinder in ihren Herkunftsfamilien.
In seiner zuerst 1962 erschienen Untersuchung über “Familie und Wertesystem” machte vor allem Dieter Claessens auf die Bedeutung der frühkindlichen Sozialisiation aufmerksam. So rückte die Sozialisationsfunktion der Kernfamilie stärker ins Blickfeld. [Dieter Claessens, Familie und Wertesystem. Eine Studie zur zweiten, sozio-kulturellen 'Geburt' des Menschen und die Belastbarkeit der Kernfamilie, 1972]

Die konservative Familienpolitik der 50er Jahre war durchaus an Leitbildern der Partnerschaft orientiert, tat aber wenig, um diese verwirklichen zu helfen. Diese Politik zeigte und zeigt bis heute den Widerspruch, dass sie am Leitbild der “häuslichen” Frau und Mutter festhielt, aber die außerhäusliche Berufstätigkeit der Frau für Wirtschaftswachstum und Hebung des Lebensstandards stillschweigend voraussetzte, d.h. ohne allerdings hiermit Chancen der Emanzipation der Frau bewußt zu verbinden.

So ergab sich die bis heute problematische Situation für eine große Zahl berufstätiger Mütter, aufgrund gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen und Leitbilder (Konsumstandards; Wohnungsstandards, aber zunehmend Überlebensnotwendigkeit) außerhalb des Hauses arbeiten zu müssen, ohne dass es hierfür entsprechende gesellschaftliche Leitbilder und “flankierende Massnahmen” gegeben hat, wie z.B. den Ausbau der Kindergärten. Daran hat sich auch durch die in der großen Koalition begonnenen Reformen noch nicht sehr viel geändert. Nach wie vor wird das Thema Familienpolitik manchmal erstaunlich realitätsfern diskutiert. Vor allem Konservative sehen ihr Familienbild bedroht; nicht wenige Männer sehen sich auch künftig gern als Hauptverdiener und überlassen die Kindererziehung lieber weiterhin den Frauen.

Auch hier, wie in der Bildungspolitik, zeigt ein Blick auf OECD Studien, dass wer wirklich mehr Geburten anstrebt, auf jeden Fall für eine verläßliche/zuverlässige Betreuungskette sorgen muss. Diese sollte es Frauen und Männern ermöglichen, schnell in den Beruf zurückzukehren und dort auch einsatzfähig und erfolgreich zu sein.

Das hat mehrere Vorteile:
Ein-Verdiener-Familien sind finanziell nicht so stabil wie Familien mit zwei Verdienern;
Eine höhere Erwerbsquote von Frauen kann auch die Erosion der Sozialkassen mindern;

Der Ausbau der Betreuung darf sich aber nicht nur auf kleine Kinder beschränken. Auch Schülerhorte sind wichtig. Während es für Grundschüler einige Angebote gibt, haben Eltern von Elf-und Zwölfjahrigen das Nachsehen. Für Schüler aus armen Familien gibt es auch noch eine Möglichkeit, sie über das Wochenende mit Essen zu versorgen. In den U.S.A. gibt es ein 'Rucksackprogramm', wo diese Schüler über das Wochenende sechs Mahlzeiten in einem neutralen Rucksack mitbekommen. Zusätzlich gibt es noch einen Gutschein für extra Obst oder Milch. Dies wäre ja auch ausbaufähig; z. B. könnten Familien auch einen Gutschein für einen gemeinsamen Theater-oder Opernbesuch erhalten. [ www.blessingsinabackpack.com ][ www.lafightshunger.org/images/BackPack092107-Final.pdf ]
In jedem Fall gilt: Will der Staat kein zusätzliches Geld aufwenden, muss er auf Steuervorteile und Zuschüsse zurückgreifen. Dies ist schon deshalb sinnvoll weil Ehegattensplitting und Betreuungsgeld nur eine Hausfrauenehe unterstützen. Will man diese Förderung weiterhin, kann man nicht mit mehr Geburten rechnen, denn nur solche Paare mit gesichtern Einkommen d.h. mindestens ein Partner Beamter, werden Familienplanung beginnen.

Allerdings ist das 'FKK' (Frau-Kind-Karriere) Bild immer noch stark optimierungsbedürftig. Dies zeigte sich besonders deutlich bei der Bildunterlegung in zwei Tageszeitungen, anläßlich der Vorstellung einer Sozialstudie des WZB (Wissenschaftszentrum Berlin) in Zusammenarbeit mit der Frauenzeitschrift Brigitte über junge Frauen und ihr Verhältnis zu Kindern und Karriere.

Während die Leiterin der Studie, Jutta Allmedinger, Präsidentin des WZB, feststellte, dass die “Zeit des Entweder-Oder” vorbei sei, und sich die “Gesellschaft auf einen ganz neuen Typ Frau” einstellen muss, zeigte sich, dass diese Botschaft in den Bildredaktionen noch nicht so ganz angekommen ist. In der einen Zeitung war unter der Titelüberschrift “Kompromisslos Kinder und Karriere” eine schwangere Friseurin (typisch weiblicher Beruf!) in legèrem Outfit zu sehen (Berliner Zeitung, 26.03.2008) Das Bild der anderen Zeitung zeigte eine junge Frau im Businessanzug (eher männlicher Beruf), nicht schwanger und mit einem Trolley auf einer aufwärts fahrenden Rolltreppe. [Der Tagesspiegel, 26.03.2008] Merke: Einige Berufe vereinbaren Kinder und Arbeit leichter als andere!
Unter diesem Aspekt ist die Bereitstellung eines Betreuungsgeldes wie von der CDU/CSU gefordert von ebenso gegenteiliger Wirkung wie die Forderung nach Verlängerung der Altersteilzeit durch die SPD auf die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer. Die Befürworter des Betreuungsgeldes gehen vom Ideal der Hausfrauenehe des vergangenen Jahrhunders aus. Hier vermochten es offenbar weite Bevölkerungsgruppen noch, ihren Kindern Deutsch beizubringen. Wenn aber, wie mittlerweile häufig beklagt, Kinder im Kindergarten oder in der Grundschule dies nur mangelhaft oder gar nicht beherrschen, sind sie bereits bei Schulantritt benachteiligt und werden diesen Mangel auch später nicht mehr ausgleichen können.

 

Frühe Revolution

Im Zeitalter der sogenannten “Doppel-Revolution”, d.h. der englischen industriellen und der französischen politischen Revolution ( Hobsbawn, Eric, Europäische Revolutionen 1789-1848,Zürich 1962, S. 10f), wird diese längst nicht mehr intakte Ordnung von außen und von innen her, sofern sich diese Unterscheidung überhaupt sinnvoll machen läßt, innerhalb weniger Jahrzehnte aufgebrochen und verändert. Von “außen” durch die wissenschaftlich-,technisch-industrielle Revolutionierung der Vorstellungen über die Vernunftbegabung des Menschen und die Grundlagen des Zusammenlebens des Menschen in Gemeinschaft und Gesellschaft.

Die Dynamik dieser Prozesse und Umwälzungen, die mit der “Doppel-Revolution” beginnt, hat nicht nur eine oder zwei Ursachen. Es gibt für diesen dynamischen, die Sozialstrukturen und Lebensbedingungen aller Gesellschaftsmitglieder verändernden Prozess keine erste Ursache; es gibt sich gegenseitig verstärkende Faktorenbündel.

Nachfolgend ein kurzer Überblick, der keine Wirtschafts- und Sozialgeschichte der jeweiligen Epoche darstellt, sondern auf einige wesentliche für die Änderung der Sozialstrukturen besonders wichtige Zusammenhänge hinweist.


- In der agrarisch-feudalen Gesellschaft hatten mit Grundeigentum verknüpfte Sozialstrukturen- und -beziehungen eine entscheidende Bedeutung. Der von Adel und Kirche beherrschte Grundbesitz war prägend für die Daseinsbedingungen in dieser Ordnung; trotz ihrer Sonderentwicklung im 12. Jahrhundert hatten es die Städte nicht geschafft, die Prinzipien ihrer Sozialordnung (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, Köln/Berlin (zuerst 1921/22),1964, S. 923-1033, “Typologie der Städte”)) auf das weitere Umland auszudehnen, vergleichbar den italienischen Stadtrepubliken. Trotz einzelner Reformmassnahmen, die mit ihren Jahreszahlen wie Einschnitte wirkten, vollzog sich die Änderung der feudal-ständischen Agrarordnung nur schrittweise; in den verschiedenen Ländern geschah dies aufgrund der unterschiedlichen Ordnungen der Gutsherrschaft und der Grundherrschaft in zum Teil großen Zeitabständen.
- Die Bauernbefreiung, dieser umstrittene Begriff geht zurück auf den Historiker und Nationalökonomen Georg F. Knapp (1842-1926) war im Prinzip die Ablösung der Erbuntertänigkeit, der Hand-und Spanndienste und sonstiger Frondienste durch Eintragung einer kapitalisierten Schuldenlast. An die Stelle der persönlichen Abhängigkeit trat die finanzielle. Diese führte dann häufig dazu, dass die so frei gewordenen Bauern ihr Land verkaufen mußten und sich der immer größer werdenden Schar des “unterständischen Pöbels” (Werner Conze: Vom “Pöbel” zum “Proletariat”. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland (zuerst 1954), in: H.-U. Wehler, Hrsg.: Moderne deutsche Sozialgeschichte, 1968) anschlossen (zugesellten), zusammen mit dem übrigen “Lumpenproletariat” (Karl Marx) wurden diese in die sich herausbildenden Städte abgedrängt.
- Der Individualismus der liberalistischen Lehren und der nicht mehr funktionierende Schutz der bisherigen ständischen Institutionen führte dazu, dass sie ihre Arbeitskraft verkaufen mußten. Sie waren auf sich selbst gestellt und wurden Teil des sich bis ca 1850 sehr langsam, dann schnell herausbildenden Industrieproletariats. Daher wurde damals auch weniger von “Bauernbefreiung” gesprochen, sondern von Ablösungen und Regulierungen.
- Die Stein-Hardenbergischen Reformen (Freiherr vom Stein, 1757-1831) und Karl August Fürst von Hardenberg (1750-1822) begannen im Preußen der napoleonischen und nach-napoleonischen Ära. Diese Reformen betrafen im wesentlichen

- Beseitigung der Erbuntertänigkeit (“Bauernbefreiung”);
- Reorganisation der Fachministerien und des Heeres;
- Säkularisierung;
- Judenemanzipation;
- Freiherr vom Stein versuchte vergeblich, gegen die nicht gewollten Folgen seines Reformwerks, die “Kapitalisierung der Agrarordnung” anzukämpfen. Die von Marx und allen Kritikern der bürgerlichen Gesellschaft, die auch mit der Bauernbefreiung in ihrer Entwicklung vorangetrieben wird, gebrandmarkte “Kapitalisierung” der Sozialverhältnisse sollte nicht vergessen machen, dass die Geldwirtschaft eine zunehmende Bedeutung erhält und das Geld als ein 'generalisiertes' Austauschmedium (N. Luhmann, Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, 1970, S.128) die Ablösung von ständisch-feudalen Person-Person-Beziehungen überhaupt erst ermöglicht hat. Dies ist zunächst einmal von allen als Fortschritt zu betrachten, die das Bestehen sozialer Beziehungen nicht ausschließlich auf Gefolgschaft, Gehorsam, Tradition, Gesinnung, charismatisches Führertum oder parteipolitsche Weltauslegung gegründet wissen wollen.


Teil der Stein-Hardenbergischen Reformen in Preußen war 1810 auch die Einführung der Gewerbefreiheit. Doch für ihren Gebrauch fehlten noch alle Voraussetzungen. Der Schutz des Handwerks ging weiter, so dass es erst mit heftiger einsetzender Industrialisierung in den 50er und 60er Jahren 1869 zur Einführung der uneingeschränkten Gewerbefreiheit im von Preußen geführten Norddeutschen Bund, dem Vorläufer des Deutschen Reiches von 1871 kam.
Aus Platzgründen wird hier nicht weiter darauf eingegangen was die Gewerbefreiheit für Änderungen in der Arbeitsorganisation, den Lebensgewohnheiten und anderen sozialen Fragen der hier betroffenen Bevölkerungsgruppen bedeuteten. Es wird aber interessant sein in einigen Jahren eine vergleichende Untersuchung anzustellen, inwieweit die EU-Dienstleistungsrichtlinie eine ähnliche Wirkung entfaltet hat.

Am Ende dieser Entwicklung hatte ein Verdrängungs-aber kein Zerstörungsprozess stattgefunden.

 

Déja vu

Der Auszug aus dem nachfolgenden Protestgedicht geißelt die Auswüchse wirtschaftlichen Handelns zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise 1929-33, die dazu führte, dass ganze Waggon- und Schiffsladungen von Kaffee, Weizen und anderen Nahrungsmitteln ins Meer geschüttet wurden um die Weltmarktpreise stabil zu halten während Millionen Arbeitslose das Lebensnotwendige entbehren mußten.

“Sie werfen den Kaffee ins Feuer. Sie schmeißen den Weizen ins Meer. Doch wann werfen die Säckeschmeißer die fetten Räuber hinterher? ...Proleten, packt eure Habe, die reiche Ernte hat uns die Preise verhunzt. Brotfrucht ist Teufelsgabe, drum rin mit die Schrippen in die Feuersbrunst!”

Anonym: Die Ballade von den Kaffesackschmeißern. Abgedruckt in: Der Freiheit eine Gasse. Werk und Wir, 1969, Jahresausgabe der Werkszeitschrift der Hoesch AG, S. 104-105.

 

Arbeit ist nicht unser Leben

Der Gedanke ist der christlichen wie der sozialistischen Vorstellungswelt zu eigen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Zu finden ist der Satz bei August Bebel, Lenin und im zweiten Thessalonikerbrief des Apostel Paulus. Von der sozialistischen Arbeiterbewegung “Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will”, über die protestantische Bürgerethik, die die Tugend der Arbeit über den Müßiggang des Adels stellte, bis hin zur katholischen Soziallehre, die die Arbeit zum Teil des Menschseins erklärte.

Die gelunge Vollendung/Synthese dieser drei Stränge war der rheinische Kapitalismus. In seiner bundesrepublikanischen Ausprägung wurde er zum Alltags- und Erfolgsmodell. In dem Maße, wie dieses Wertemodell vor allem in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts verblaßte, es sei hier nur an den Kampf um die 35 Stunden Woche erinnert, aber auch Rationalisierungen traten vermehrt auf, entstand eine Gegenbewegung.

Aber das Ende der Arbeitsgesellschaft stellt sich als ein Irrtum der (Wirtschafts-)geschichte heraus. In Berlin-Spandau wurde für den Erhalt des Bosch-Siemens-Hausgerätewerks gestreikt und in Bochum für die Beibehaltung des Nokiawerkes. Es ging und geht nicht nur um den Verlust einer Einnahmequelle, eines Einkommens, sondern auch um den Selbstwert der Arbeitenden. Ist sie aber auch ein Wert an sich im Niedriglohnbereich? Teilweise. So wird zwar sowohl bei 1.50 Euro-Tätigkeiten wie auch ABM geklagt, aber oft genug nicht über ein zu wenig an Geld sondern den Sinn der auszuübenden Tätigkeit. Anders formuliert: Die Arbeitenden finden sich häufig in diesen Tätigkeiten nicht wieder, denn die Würde eines Menschens läßt sich schlecht in Geld ausdrücken/umsetzen. Entscheidend ist: Löhne bilden meistens nicht die Gerechtigkeit ab, sondern die Produktivität – oder eine Sonderstellung. Das bedeutet aber auch, eine einfache Qualifikation ist nicht gleich Mindestlohn.[Vgl. dazu auch: Abraham, Martin: Wann werden Löhne als gerecht eingeschätzt? Eine tauschtheoretische Betrachtung der Lohngerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. In: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung Jg 40, H. 1, 2007, S. 9-22]

Arbeitslose die einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehen, wollen vor allem nicht ausgeschlossen sein aus der Gesellschaft, wollen und können ihre eigene Zeit häufig selbst managen und gestalten. [Vgl. hierzu auch: Grün, Carola; Hauser, Wolfgang; Rhein, Thomas: Finding a job: Consequences for life satisfaction and interactions with job qualitiy. IAB Discussion Paper, Nürnberg 24/2008] Es sind zwei unterschiedliche Ebenen zu erkennen: Während öfters Facharbeitermangel beklagt wird und Bildungspolitik versucht, möglichst gut ausgebildete Menschen auf den Arbeitsmarkt zu schicken wo sie dann viele Stunden (hoffentlich) arbeiten sollen. Gleichzeitig findet vor allem bei einfacheren Qualitätsarbeiten wie dem Mobilfunkgerätezusammenbau (siehe Nokia) nach wie vor ein Abbau statt.

Die protestantische Ethik ist immer noch eine bestimmende Haltung in Deutschland, aber bezahlbare und bezahlte Arbeit ist zu einer Rarität geworden. Bei Nokia wurde dieses zum wiederholten Male deutlich. Vor allem bei internationalen Konzernen gilt immer noch, dass die Ertragslage und Gewinnmargen vor allem durch Stellenabbau und Standortverlagerungen zu verbessern ist. In den nächsten Jahren wird sich dieser Trend möglicherweise umkehren, wenn der Arbeitsgesellschaft der Zukunft die Arbeitskräfte fehlen werden. Oder doch nicht?

Eigentlich mangelt es nicht an Arbeit – man denke nur an die vermehrte Arbeit im Erziehungsbereich, aber auch in der Gesundheits- und Altenpflege. Es fehlt an Diskussionen, die im Zusammenhang mit dem sozialen Wandel auch über die Entkoppelung von Produktivität und Arbeit debattiert. Hierzu schließt sich auch wieder der Kreis zur Debatte um Gerechtigkeit/gerechten Lohn. Nach welchen Kriterien soll die Produktivität im Bereich Kindergarten und Altenpflege gestaltet werden? Hier treffen zwei Lager aufeinander:

Zum einen Arbeitgeber, auch und gerade der öffentliche Dienst, die Mitarbeiter vor allem als Kostenfaktor betrachten

zum anderen Gewerkschaften, die vor allem für ihre Mitglieder streiken (und nicht die Gesellschaft als Ganzes im Sinn haben)

Das Investieren in mehr und besser bezahlte Erzieher, Krankenschwestern, Altenpfleger etc. ist keine konsumptive Ausgabe.
Müßiggang ist kein Staatsziel, aber sinnvolle Tätigkeiten sollten es sein.

 

Mindestlohn oder der hohe Preis niedriger Kosten

In seinem Dokumentarfilm “The high cost of low price”, U.S.A. 2005, beschreibt der Autor Robert Greenwald u.a. wie der Lebensmittelkonzern Wal-Mart mit Hilfe öffentlicher Unterstützungsprogramme im Bereich Krankenversicherung seine eigenen Kosten für die Krankenversicherung seiner Mitarbeiter reduzierte. [ http://www.walmartmovie.com ] Zwar gab es Krankenversicherungspläne bei Wal-Mart, sie waren aber für die meisten Angestellten zu teuer und stellten zu hohe Kostenbeteiligungsbedingungen.
Im März 2006 verabschiedete der Landtag von Maryland ein Gesetz, dass Firmen mit über 5.000 Beschäftigten verpflichtet, tatsächlich Krankenkassenbeiträge für Ihre Mitarbeiter zu entrichten, oder aber 8% der Gehaltssumme an das Land abzuführen

Vor dem Hintergrund der weltweiten Krisen am Finanzmarkt, Rohstoff- und Nahrungsmittelkrisen, gibt es wieder heftige Debatten über Vor- und Nachteile der internationalen Arbeitsteilung. Die Handelsaktivitäten der großen Volkswirtschaften (neben EU, USA, nun auch noch Russland, China, Indien) waren historisch schon immer durch Rivalität und Komplementarität gekennzeichnet. Die Verlagerung von Jobs in Billiglohnländer bekommt nun noch Zuwachs durch die Verteuerung von Energie und Nahrungsmitteln.

Die Instrumentalisierung der Standortfrage in der Tarif- und Wirtschaftspolitik ist einer sachlichen Auseinandersetzung nicht dienlich. Es ist nun einmal so, dass sich fast jeder Bildschirmarbeitsplatz in Bangkok, Bangalore oder Shanghai einrichten läßt (dazu Friedman, Thomas L.: The World is flat. A brief History of the Twenty-First Century, New York 2005/06.) Einzelne Elemente der Wertschöpfungskette wurden unter Berücksichtigung von Markterschließung, der Kostenstruktur und der Großkundennähe ausgegliedert. Diese Form der Globalisierung und ihre Folgen wird auch den Grundschülern der Kautsky-Grundschule in Dortmund-Scharnhorst durch ein praktisches Projekt erlebbar gemacht. [Ruhr-Nachrichten, 12.10.2007]

Die häufig mit der Verlagerung verbundenen hohen Koordinationskosten und Qualitätseinbußen sowie mangelnde Flexibilität haben nun aber auch einen rückläufigen Trend begründet. So hat z.B. die Firma Steiff ihr Produktion wieder nach Deutschland geholt. Der Rückgang der inländischen Industriebeschäftigung ist aber kein Ergebnis allgemeiner Standortschwäche, sondern einer rückläufigen Nachfrage nach einfachen Qualifizierten Arbeitskräften. Will man aber Freihandel, muss der Sozial-(Wohl-)fahrtsstaat stark sein. Dies ist auch im gegenwärtigen US-Wahlkampf zu beobachten wo die Freihandelszone NAFTA von beiden demokratischen Kandidaten für Verwerfungen am US-Arbeitsmarkt verantwortlich gemacht wird. Hier wie dort wird eine expansive Bildungs- und Qualifizierungspolitik als adäquate Antwort auf eine rückläufige Nachfrage nach einfacher Arbeit gefordert. Dies ist ohne vermehrte öffentliche Bildungsinvestitionen nicht zu haben. [ http://www.unctad.org ]

Bei vielen gilt der deutsche Arbeitsmarkt als zu unflexibel, vor allem im Bereich des Kündigungsschutzes; daher die häufig vorgebrachte Forderung, Kündigungen zu erleichtern.(Gegenbeispiel: Bereits 2002 wurde der Kündigungsschutz für über 52-jährige aufgehoben, dies führte nicht sofort zu einer vermehrten Beschäftigung in dieser Altersgruppe). Es gibt aber auch andere staatliche Möglichkeiten Firmen bei schlechter Auftragslage im Bereich der Personalkosten zu entlasten. Eine Option wäre Lohn- und Gehaltskürzungen, welche allerdings von Firmen nicht gefordert werden [C.T. Bewley, 2004: Fairness, Reciprocity and Wage Rigidity, Yale Paper 1383] Wieso also eher Entlassungen und Personalabbau anstelle von Lohnkürzungen? Zum einen fürchten Manager, Arbeitnehmer könnten die Identifikation mit dem Unternehmen verlieren; ausserdem gehen sie davon aus, dass bei generellen Gehaltskürzungen zuerst die besten Arbeitnehmer abwandern, weil deren höhere Produktivität sich in der Regel nicht in vollem Maße in ihrem Gehalt widerspiegelt, so dass sie eine relativ gute Position auf dem Arbeitsmarkt haben.

Insgesamt zeigt sich aber, ähnlich wie bei den Betriebsräten und Gewerkschaftern, eine Neigung der Unternehmen, die Kosten im Bedarfsfall über Entlassungen statt über Löhne zu regeln. Sowohl für die Gesellschaft als auch für die Betroffenen ist dies von Nachteil. Arbeitslosigkeit führt zu hohen sozialen und privaten Kosten. Vorrang müssen Alternativen sein, die die Flexibilität der Unternehmen gewährleisten und Entlassungen vermeiden. Hierzu wären rechtliche Hürden vor Lohn- und Gehaltskürzungen zu beseitigen. Die Förderung über variable Lohnbestandteile würde in die gleiche Richtung wirken. Boni, die aus nachvollziehbaren Gründen gesenkt werden, hätten auch aus Unternehmersicht nicht dieselben negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmoral wie eine Kürzung des Grundgehalts. Das so gesparte Arbeitslosengeld könnte z. B. für steuerliche Anreize bei variablen Lohnbestandteilen verwendet/genutzt werden.

 

Fantastische Reise oder am Ende des Rollfelds

Die weit verbreiteste Vorstellung in der Politik beruht darauf, durch gezieltes Handeln möglichst sofort eine Wirkung/ein Ergebnis zu erzielen. Marktwirtschaft hingegen möchte von der Politik die Definition von Regeln und vertraut ansonsten auf Selbstregulierung durch Effizienz. Dieses Spannungsverhältnis soll Politik idealerweise ausgleichen.

Chris Markers experimenteller Kurzfilm (La Jetée/Am Ende des Rollfelds, 1962) ist ein bemerkenswertes Beispiel für eine Zeitreise. Er beschreibt die Odyssee eines suchenden Menschen, die nicht nur in bekannte Räume führt, sondern auch in verborgene Bereiche/Gebiete. Die historische Dimension des 'und dann' ist aufgehoben zugunsten einer Selbsterfahrung.

Die Handlung beginnt nach einem Dritten Weltkrieg. Eine Gruppe hat die Möglichkeit zur Zeitreise entdeckt: Man versetzt einen jungen Mann in die Vergangenheit seiner Kindheit zurück, an einen Zeitpunkt eines Geschehens an das er traumatische deutliche Erinnerungen hat. Er befindet sich auf einem Flughafen und neben ihm ist ein Mann erschossen worden, genau in dem Moment, als der Junge in den Anblick einer schönen Frau versunken ist. Die Zeitreise glückt und der Junge findet die Frau wieder. Er will nicht mehr zurück und versucht mit der Frau zu fliehen: Dabei wird er von einem anderen Zeitreisenden erschossen: Der Mordanschlag, dessen Zeuge er als Kind war, trifft ihn selbst als Erwachsenen. Letztendlich wird ein Ausweg aus den Ruinen des Dritten Weltkriegs in den Dimensionen der Zeit gesucht.

Dieser Vorgang ist so natürlich nicht übertragbar auf die aktuelle Politik. Aber der abrupte Versuch, die Aufkündigung des Sozialstaats vergangener Jahre zu beenden, ist nicht überzeugend gelungen, da auch viele Politiker – aller Parteien – sich anscheinend in diese Zeit zurückzusehnen scheinen. Die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitslose kennzeichnet aber einen grundlegenden Kurswechsel in die falsche Richtung. Statt schneller wieder in Beschäftigung zu kommen, wird wieder mehr fürs Warten ausgegeben. Dies entlastet die Politik zweifach: Statt bei der Arbeitssuche behilflich zu sein – und auch zu überlegen, wie diese staatlicherseits noch optimiert werden kann, wird Arbeitslosigkeit länger finanziert. Anstatt auch über die Qualität von Umschulungsmassnahmen die häufig nicht greifen nachzudenken, sonnt sich die Politik in sozialem Wohlbehagen und Gefälligkeiten. Und außerdem: Wie paßt die Verlängerung von ALGI zu der Absicht der SPD, die “Potentiale des aktiven Alters” zu heben? Oder dem der CDU “bessere Beschäftigungschancen für Ältere” zu schaffen, denn "viele Menschen können und wollen länger arbeiten?” Da hätte man schon gerne eine Meinungsäußerung des NRW-Ministerpräsidenten gehört. Fazit: Der Druck wurde durch diese Entscheidung nicht nur bei den Arbeitslosen gelockert, sondern auch in der Politik.

Im SF-Film aus dem Jahr 1966 (Fantastic Voyage von Richard Fleischer mit Raquel Welch, Donald Pleasence u.a.) geht es um das Eindringen in bislang unerforschte Bereiche des menschlichen Körpers. Ein medizinisches Notfallteam wird auf Mikroskopgröße geschrumpft um einen bei einem Attentat lebensgefährlich verletzten Wissenschaftler zu retten. Das Team muss einer Reihe von Gefahren im Gehirn, Herz und Venen des Opfers bestehen, und nicht zuletzt einen Saboteur in den eigenen Reihen bekämpfen um anschließend, natürlich immer im Wettlauf mit der Zeit, nach geglückter Operation den Körper des Professors in einer Träne zu verlassen – gerade wieder rechtzeitig auf “Normalgrösse” gebracht zu werden.

Parallelen sind natürlich rein zufällig. Es gab schon einmal einen sehr umstrittenen SPD-Minister: Karl Schiller, dem neben einer gehörigen Portion Eitelkeit und Beraturngsresistenz, eine noch größere an intellektueller Brillianz nachgesagt wird. Sein Dissertationsthema: Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung, aus dem Jahr 1935. Auf Basis des Keynesianismus war dies die theoretische Erklärung für den Erfolg der nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungspolitik. Schiller war überzeugter Anhänger der Marktwirtschaft. Für ihn war Planung nicht Lenkung privater Investitionen oder eine DDR-Zentralwirtschaft, sondern der ehrgeizige Versuch, die Konjunktur über die Höhe der Staatsausgaben zu steuern. Dies misslang, die Inflationsrate stieg und er konnte gegen ausgabenfreudige Minister sich nicht durchsetzen und trat zurück (1972). Danach machte er Wahlkampf gegen die SPD. Was vor allem zu seinem Scheitern beitrug war die Fehleinschätzung der explosiven Mischung des 'magischen Vierecks' aus Ideologie, Interessengruppen, Parteipolitik und werturteilsfreien ? Experten, bei der Gestaltung der Politik. [Dies alles und weiteres steht in der sehr lesenswerten Biografie des Historikers Torben Lütjen: Karl Schiller (1911-1994). “Superminister” Willy Brandts, 2007]

Der Reiz des Films besteht vor allem darin, dass auf der Leinwand die Männer im Hauptquartier und die Besatzung des Mini-U-Boots gleich gross sind (in der 'Realität' sind sie es ja auch) aber die Fiktion des Films darauf beruht, dass die einen unendlich klein sind und die anderen normal sind. Davon ist der Zuschauer immer wieder aufs neue überrascht. Diese Erfahrung macht der Bürger der Bundesrepublik leider allzu selten, jedenfalls im positiven Sinn.

 

2009: Wo bitte geht's zum Zukunftsprogramm

Die vorangegangene Darstellung macht klar, dass die beiden Volksparteien sich einem fortgeschrittenen Stadium programmatischer Osteoporose nähern. Diese Krankheit kann nur durch die konsequente Einnahme stärkender Mittel verlangsamt und gestoppt werden. Um die Bürger zu integrieren, bedarf es nicht nur des abstrakten Mottos 'investieren, sanieren, reformieren'; hierzu bedarf es eines anderen Leitthemas: Motivieren, Unternehmen, Teilhaben (MUT). Zur Umsetzung dieses Anspruchs, nachfolgend einige Anregungen.

Einführung einer Positivliste

Einführung einer höheren Besteuerung von Dienstwagen

Festhalten an der Haushaltskonsolidierung. Die letzte Zinserhöhung der EZB hat es noch einmal verdeutlicht: Die Neuverschuldung muss auch deswegen auf null gesetzt werden, damit bei weiteren Zinserhöhungen nicht die Bedienung der Zinslast ebenfalls größere Löcher in den Haushalt reißt.


Kein Ausstieg aus dem Atomausstieg, solange die Entsorgungsfrage für den Atommüll nicht geklärt ist. Auf gar keinen Fall sollte der Einsatz einer Technologie per Grundgesetz ein für alle Mal ausgeschlossen werden; eventuelle Übertragungen von Restlaufzeiten alter auf neue Kernkraftwerke können erwogen werden, so lange sich die Gesamtlaufzeit dadurch nicht verlängert.
In jedem Fall sollte verstärkt auch Flüssiggas (LNG) mit als Energieträger einbezogen werden. Es ist vergleichsweise sauber und ist sehr flexibel zu transportieren. Der Transport geschieht in speziellen Tankschiffen und ist wirtschaftlich günstig. Ein gutes Betätigungsfeld für die dt. Schiffsbau- und Anlagenindustrie! Entscheidend wird sein, ob der Gaspreis an den Ölpreis gekoppelt wird, wenn die Nachfrage nach dem emissionsärmer verbrennenden Erdgas zu Lasten des Öls steigt.

Keine Einführung des Gesundheitsfonds zum jetzigen Zeitpunkt; stattdessen Aufhebung der Bemessungsgrenze in der GKV; jeder zahlt ein, wie in der Schweiz. Die PKVs bieten Zusatzversicherungen an, die dieselben Zusatzleistungen und Vorteile bieten, wie sie bereits heute die Privatversicherten genießen.

Die Zusammenlegung der steuerfinanzierten Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe ist richtig. Nachdem aber das Fordern und Fördern sich eindeutig auf ersteres konzentriert, ist jetzt ein Umsteuern zwecks Ausgleich notwendig, um die Bürger zu motivieren. Entscheidend muss sein, Menschen Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung zurückzugeben und Einstiegschancen zu ermöglichen. Dies geschieht eher nicht über eine Steigerung von Transferleistungen.

Die Umsteuergesetze (USG/Agenda 2010) wurden auf politischem Weg eingeführt, sie können also auch auf diesem Weg wieder geändert werden.


Keine flächendeckenden Mindestlöhne. Eigentlich muss jedem der Widerspruch ins Auge fallen: Wo staatlicherseits Ein-Euro-Jobs (Mehraufwandsentschädigung/MAE) vergeben werden, kann von der Wirtschaft nicht die Zahlung eines Mindestlohns verlangt werden. Hier ist die Glaubwürdigkeit des Staates gefordert. Ein erster Schritt zu mehr Glaubwürdigkeit wäre die statistische Erfassung der Tätigkeiten mit MAE als Arbeitslose im Zusammenhang mit der Gesamtzahl der Arbeitslosen. Dies würde die tatsächliche Anzahl der Arbeitslosen offenlegen und damit auch verdeutlichen, dass wir von der Vollzeitbeschäftigung weiter entfernt sind als die Koalition sich einredet. Beispiel sollte hier das Beispiel älterer Arbeitnehmer sein: Seit dem 01.01.08 müssen sie sich wieder als arbeitssuchend bei der BA melden. Idealerweise sollten Ein-Euro-Jobs in reguläre Tätigkeiten umgewandelt werden.

Keine Anrechnung von Lehrgeld auf das ALGII der Eltern. Wie sollen Jugendliche motiviert werden eine Lehrstelle zu suchen, wenn sie und ihre Familien dadurch finanzielle Nachteile erleiden?

Stärkung des Anreizes zu Teilzeitarbeit wie in Holland. Teilzeitarbeit ist eigentlich/überwiegend eine Frauendomäne. Sie war entstanden als Ergänzung zum Industriearbeiter in dem Maße, wie dessen Einkommen nicht mehr ausreichte. Eigentlich sollte die Frau zu Hause bleiben, dem Mann den Rücken freihalten, damit dieser viele 'Schichten' arbeiten konnte, um die Familie zu ernähren. Hier stellt sich die Frage, welche Rolle der Familienverbund im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik spielen soll.

Will man zu Normalarbeitsverhältnissen, muss man hinnehmen, das Beschäftigungsverhältnisse sich flexibilisieren. Das heißt man läßt Vielfalt zu, sichert sie aber besser sozial ab. Auch Teilzeittätigkeit muss zum Leben reichen, das bedeutet eine Entkoppelung vom Stundenlohn. In Holland gibt es einen Anreiz zu Teilzeitarbeit, da diese keine Auswirkung auf die Berechnung der späteren Rente hat. Hier kann dann auch mehr Anreiz zu Teilzeit bei Männern entstehen.

Außerdem ist wichtig:
wechselnde Sicherung, d.h. zwischen abhängigen Beschäftigungsverhältnissen und Selbstständigkeit muss möglich sein. Das erfordert eine umfassende Revision der sozialen Sicherungssysteme die bisher jede Art von nichttypischer Beschäftigung bestrafen.
Rente darf nicht ausschließlich von Erwerbsarbeit abhängig sein.

Die Wiedereinführung der Höchststundenzahlbegrenzung auf 15 Wochenstunden bei Minijobs, abgeschafft 2003. Dies wird dem Ansinnen einiger Arbeitgeber an Bewerber, eine 40 Wochenstunden Tätigkeit für 400 Euro anzubieten, hoffentlich schnell ein Ende bereiten. Denn mit der jetzigen Methode wird nicht nur das Stundenlohnniveau gedrückt, sondern man zwingt geradezu zur Annahme von ergänzendem ALGII (anstatt das z.B. drei Minijobs kombiniert werden könnten). In diesem Zusammenhang ist auch eine weitere Information bemerkenswert: Laut Mitteilung der Bundesregierung beziehen bundesweit 138.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst ergänzende Leistungen nach Hartz IV. (Berliner Zeitung, 22.03.08) Regelverstösse werden nach § 31 geandet. Die Aussetzung des Sanktionsmechanismus sollte noch vor der Einführung von Mindestlöhnen liegen. Denn wenn jemand nicht mehr um jeden Preis arbeiten muss, werden diese Tätigkeiten entweder 'schwarz' erledigt, verschwinden, oder aber werden besser bezahlt.


Umstellung des Beratungsverfahrens bei den Jobcentern auf das Freiwilligkeitsprinzip. Auch in der Finanzwelt, heißt es häufig, sei vieles mindestens 50% Psychologie, wieso sich dies nicht als Motivator zunutze machen? Es wird weiterhin einmal im Jahr eine Bedürftigkeitsprüfung zum Bezug von ALGII geben. Aber

Es soll Beratung für alle möglich sein, unabhängig davon ob sie gerade Arbeit/Beschäftigung suchen oder nicht. Es gibt eine arbeitsmarktpolitische Dienstleistung. Die Selbstfinanzierung ist sowieso vorhanden, wieso nicht für solche Menschen, die Beratung suchen.
Alle Bezieher von ALGII zwischen 25-60 die einen Berufs-/Universitätsabschluss haben, bekommen ein Beratungsangebot auf freiwilliger Basis. Zwecks besserer Planung kann dies gleich bei der Erstantragsstellung erfragt werden. Letztendlich geht es um die Entlastung der Fallmanager, die sich nur mit denjenigen befassen sollten, die auch wirklich Beratung wollen.

Weiterbildung nicht nur als Umschulungsmaßnahme sondern auch mit Hilfe eines coaching- und mentoring Programms mit Einzelbetreuung. Bei der Umstellung auf das Freiwilligkeitsprinzip werden hoffentlich Kräfte frei, so dass ein solches Coaching-und Mentoringprinzip auch für ALGII-Empfänger aufgelegt werden kann.

Änderung der Effizienzkriterien: weniger Beachtung, ob sich eine Maßnahme 'rechnet', d.h. ob derjenige dadurch auf dem 1. Arbeitsmarkt integriert werden kann; stattdessen soll die Motivation entscheiden. Für sein Alter ist schließlich niemand verantwortlich, trotzdem bekommen über 45-jährige keine Massnahme mehr, da sie vom Markt nicht akzeptiert werden, auch wenn sie selber gerne arbeiten möchten.


Keine Verlängerung der durch die BA geförderten Altersteilzeit. Auch in der Medizin ist dies umstritten; während in Großbetrieben bereits viel durch Arbeitsschutz und Prävention gemacht worden ist, wird vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen noch zu wenig getan, weil dies als Kostenbelastung angesehen wird. [Mediziner kritisieren Altersteilzeit, FTD, 18.06.08]
Wieso nicht im Rahmen der Berufsunfähigkeitsversicherung neue Wege gehen? Hier können Arbeitgeber und Arbeitnehmer (oder die Gewerkschaften für diese) einen Beitragsanteil der Arbeitgeber aushandeln, als flexiblen Lohnanteil, der in die Police mit einbezahlt wird. Es besteht aber die Möglichkeit, diesen Anteil in auftragsschwächeren Zeiten zu reduzieren (anstatt z.B. Leute zu entlassen). Auf diese Weise würde dieser Finanzierungsanteil dorthin gelangen wo er hingehört: auf die Ebene von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Und für eine besonders mutige nächste Bundesregierung:

Das Parlament stimmt über die Höhe des ALGII Regelsatzes ab. Bisher geschieht dies im Finanzministerium, denn der Regelsatz hat auch Auswirkungen auf die Freibeträge bei der Einkommensteuer. Die Autorin ist sich aber sicher, dass die Abgeordneten unter sachkundiger Mithilfe der Ministerialbeamten und der Steuerexperten der jeweiligen Parteien, diese Aufgabe bewältigen werden. Die Entscheidung über die Höhe des ALGII Regelsatzes sollte den Abgeordneten des Deutschen Bundestages mindestens so wichtig sein wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Freiwillige Weiterbeschäftigung dauerhaft kranker Lehrer. Inwieweit sind diese nicht eventuell für 3-5 Stunden die Woche im Bereich der Vorschulerziehung, z.B. als Lesepaten in einem Kindergarten oder als Märchenerzähler in Bibliotheken für Hortkinder einsetzbar speziell für Kinder mit Migrationshintergrund.


Analog zur Plattformstrategie in der Autoindustrie muss es eine einkommensunabhängige Grundlage für die Alterssicherung geben, zu der ergänzend weitere Bausteine hinzukommen können. Daher


Einrichtung eines Bürgerversicherungskontos (BVK) für alle Personen ab 18 Jahren. Die Laufzeit geht bis zum 68 Lebensjahr. Die Kontonummer bekommt der Bürger z.B. wenn er seinen Personalausweis beantragt. Sie ist seine persönliche Nummer, mit der er auch die Bank wechseln kann. Letztendlich handelt es sich um eine neue Form des Sparbuchs, wo nicht mehr der Name der Bank darauf steht, sondern nur der des Bürgers..

Unabhängig ob beschäftigt oder nicht, zahlt jeder Bürger mindestens zwei Euro, besser fünf pro Monat, auf dieses Konto ein. Der Staat ergänzt es jeweils um den Betrag des Lebensalters, also im 1. Jahr 18 Euro, im zweiten Jahr 19 usw.. Der Betrag wird zu den üblichen Bedingungen verzinst. Das Konto/Sparbuch darf auch nicht angetastet werden. Der Staat ergänzt nur, wenn der festgelegte Mindestbetrag eingezahlt wird. Selbst schwankende Inflationsraten sollten bei einer so lange Laufzeit sich nicht sehr verlustmindernd auswirken und mögliche Einnahmeschwankungen während des Erwerbslebens ausgleichen..

Sollte der Kontoinhaber vor dem 68 Lebensjahr ausscheiden, fällt das Geld an die Familie, die es auf ihren Konten anlegt. Oder aber der Kontoinhaber benennt eine von ihm zu unterstützende Einrichtung nichtkommerzieller Art (Schule/Universität/Krankenhaus/Pflegeheim).

Der jährlich aufzubringende Betrag wird jeweils am 1.1. eines Jahres festgelegt, wenn feststeht, wieviele 18-jährige es geben wird. Zur Finanzierung könnte eine Börsenumsatzsteuer dienen; eventuell auch eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer; auch kann ein Teil des Betrages als Zukunftsbeitrag von der Einkommenssteuer einbehalten werden, bei zu versteuernden Einkommen ab 75.000 Euro jährlich bei Einzelpersonen und 150.000 bei Ehepaaren. Natürlich läßt sich auch eine Ausdehnung auf die europäische Ebene denken, als 'European citizen account' (Euca). Wenn die vergebene Nummer eine Landeskennung hat, kann der Bürger überall eine Einzahlung vornehmen.

Die Politik ist ein 'work in progress'. Oder, mit den Worten von Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin, “Es kommt jedenfalls anders, als wir es erwarten.” (Märchenbericht, Rede zur Feier des 10-jährigen Bestehens der Berliner Wirtschaftsgespräche, 24. Mai 2008) Zumindest wird die Politik kontinuierlich durch unterschiedliche Gruppen neu angepaßt. Man kann Idealen huldigen, aber man sollte dies mit geöffneten Augen tun und dabei die Realitäten der Vergangenheit und die Herausforderungen der Zukunft fest im Blick haben.

Stellt man sich Deutschland als Fußballmannschaft vor so gilt: Deutschland hat Talent. Aber der Schlüssel zur Hebung und Umsetzung dieser Potenziale ist eine realistische Evaluation - Über das Spannungsverhältnis von Bildung und Priviligien sowie von Produktivität und Gerechtigkeit. Dazu gehört Mut.

Juni 2008